Philosophie von Gott
Die philosophische Rede von Gott gestaltet sich auf folgende drei Grundweisen:
Die monologische Philosophie, unabhängig davon, ob sie kosmozentrisch, anthropozentrisch oder theozentrisch formuliert wird, ist wesenhaft dadurch bestimmt, dass ihr Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt in jeder dieser Varianten der Mensch ist.
Das Stillwerden der Philosophie vor Gott ist der entscheidende Ausdruck der Erschöpfung des monologischen Zugangs.
Der Dialog ist die Weise der philosophischen Rede, an deren Anfang die Wende der Philosophie zum Primat des Zuhörens steht.
Monolog
Die Antike und das Mittelalter gehen von der „Sicherheit“ der Welt aus und bemühen sich, von ihr zur Sicherheit von Gott zu gelangen. Dies geschieht nicht nur mittels der Argumente für die Anerkennung der Existenz Gottes, sondern auch in der Konstruktion des philosophischen Gottesbegriffes selbst. Summum ens und summum bonum – Gott der reifsten philosophisch-theologischen Entwürfe jener Zeit – sind qualitativ potenzierte Gegebenheiten der Welt, deren idealisierte Extrakte. Schon in der griechischen philosophischen Theologie hat sich das Denken von Gott in dieser Richtung auf den Weg begeben; ihre Begriffe lösten sich zum ersten Mal von der ursprünglichen passiven Spontaneität der dichterisch-mythologischen Bilder der Gottheiten: Der Status der profanen philosophischen Sicherheit ist nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit und Vieldeutigkeit der traditionellen Erfahrung und Phantasie, sondern mit der eindeutigen und unselbstverständlichen rationalen Begründung gegeben. Der sich selbst in der Welt rational verankernde Mensch wird zum Beurteiler der Gottheit Gottes. Er löst sich zwar von der Übermacht der mythischen anthropomorphen Vorstellungen von Gott los,1 aber er verstärkt zugleich seinen philosophischen Anthropozentrismus. Es sind menschliche Maßstäbe und Kriterien, die – monologisch – Gott seine genau bestimmte Stelle auf dem Gipfel des menschlichen Entwurfs von der Welt zuweisen. Die Metaphysik – von Aristoteles als die „erste Philosophie“ und zugleich als die „theologiké“2 begründet – ist eine Selbstverwirklichungsweise des Menschen als des Wesens, das den „Logos besitzt“: das die Fähigkeit und Macht, die Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, sie zu enthüllen oder zu verhüllen, hat. Den Dialog über das Maß dieser Enthüllung führt der Philosoph nicht mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit den übrigen Philosophen.
1 Xenophanes: B 14, B 16, B 15.
2 Metaphysik, 1026 a 18 ff.
Auf diese Weise, ohne den Dialog mit seinem „Gegenstand“, konnte das begriffliche Erfassen des unsichtbaren Gottes nur im begrifflichen Erfassen der sichtbaren Welt seine Stütze haben. Die griechische Philosophie hatte keine andere Wahl und es bleibt ihr Verdienst, dass sie die Instanz Gottes überhaupt zu ihrem eigenen Thema, und zwar dem vorrangigen und bestimmenden, gemacht hat. In der Aneignung dieses Themas erblickte sie die Bestätigung und Vollendung ihrer Identität: Ihr Fragen nach Gott war mit der eigentlichen philosophischen Grundfrage, der Frage nach Herkunft und Bestimmung von allem, was ist, identisch. Die Wesensgestaltung der Philosophie selbst – ihre konstitutive Fähigkeit der andauernden kritischen Selbstreflexion und des unbegrenzten Fragens – begründet dabei auch die Möglichkeit des ständig wiederholten Exodus aus jeglichem relativ begrenzten Zustand des philosophischen Denkens. Die Geschichte der philosophischen Theologie verkörpert diesen Prozess in seiner grundlegenden und tragfähigsten Linie; denn Gott als das anspruchsvollste philosophische Thema macht es der Philosophie möglich, ihr Wesen am vollständigsten zu entfalten: ihren Sinn für die unabhängige Unausschöpflichkeit des Seins, das sich nur einem unbegrenzt offenen Denken zugänglich machen kann, zu bewähren. Dieses die Philosophie von Anfang an gestaltende Prinzip (zum Unterschied von den mythisch oder wissenschaftlich begrenzten Denkweisen) fließt mit dem Prinzip des Dialogs beinahe zusammen. Die Philosophie kann dieses Prinzip nur an dem „äußersten“ Thema Gott konsequent ausschöpfen. Jedoch die faktische Selbstkonstitution der Philosophie in Bezug auf diesen ungreifbaren Gegenstand verlief lange Zeit als wiederholtes Versagen von verschiedenen Varianten der monologischen Theorien. Bis zum 20. Jahrhundert arbeitete sich die Philosophie latent zur expliziten Reflexion des ihr tief eigenen Prinzips des Dialogs durch als der Bedingung sine qua non der wahren philosophischen Theologie.
Eine unauffällige vorbereitende Entwicklung spielte sich schon im Rahmen des primären Monologs ab; sie ähnelte bisweilen einem abwechselnden Schwanken und verlief als Verschiebung des Schwerpunktes des Fragens; Gott war interessant für die Philosophie entweder eher um alles anderen willen, nur als Grund und Ursprung der Welt, oder schon um seiner selbst willen, als das absolute Sein und das Höchste, was man denken kann. So verzweigt sich die Pluralität der konkreten Weisen der philosophischen Überbrückung der antiken und mittelalterlichen Differenz von Welt und Gott in zwei Hauptrichtungen: die aufsteigende („von der Welt zu Gott“) und die absteigende („von Gott zur Welt“).
Von einem möglichen Aufstieg zu der philosophisch benennbaren göttlichen Dimension der Wirklichkeit wussten schon die Vorsokratiker. Das Attribut „göttlich“ verbanden sie nicht mit den vielen Namen des traditionellen griechischen Pantheons, sondern immer schon mit dem eigentlichen philosophischen Ausdruck, mit dem sie den einzigen bestimmenden Urgrund von allem erfassen wollten: mit dem hydor von Thales, apeiron von Anaximander und mit den anderen archai als den „herrschenden Ursprüngen“. Dieses Bestreben, vor allem die Welt zu erklären – die Quelle ihres Seins und ihrer Ordnung zu finden – erreichte in der Antike seinen Höhepunkt in der Konzeption Gottes als proton kinun akineton, „das unbewegte erste Bewegende“, von Aristoteles. Im zwölften Buch seiner Metaphysik geht er von der allgemeinen Beschreibung der Weltbewegung aus (die nicht nur Ortsveränderung, sondern auch Wachstum, Entstehen und Vergehen und andere Transformationen einschließt) und erklärt ihre ontologische Dynamik mit Hilfe des allgemeinen Prinzips des Übergangs vom möglichen zum wirklichen Sein. Gott als das unbewegte erste Bewegende ist passives Prinzip dieser Bewegung: Er selbst (es selbst) ist die reine (vollkommene und ewige) Wirklichkeit, die alle anderen, sich wegen der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten bewegenden Seienden, „hinauf“ – zu sich selbst – zieht. Er tut es nicht von außen, sondern dadurch, dass er in allem Wirklichen gegenwärtig ist – oder dass alles Wirkliche an ihm Anteil hat. Neben der platonischen Inspiration nimmt man hier die Bindung an Anaxagoras wahr, denn auch Aristoteles fasst Gott als nous – d.h. als das rationale, alles kosmische Geschehen durchdringende Prinzip – auf. Der Schlussstein des philosophisch-theologischen Entwurfs von Aristoteles ist sein spekulativster Begriff: noesis noeseos. Des göttlichen Denkens kann (der Logik der Welt nach) nichts Kleineres würdig sein als das Vollkommenste – es selbst.
Obwohl die Theologie des Aristoteles den Gedanken Gottes als einer Person überhaupt nicht zulässt (sondern Gott nur als das lebendige und denkende höchste Seiende auffasst), beeinflusste sie, hauptsächlich durch die Vermittlung von Thomas von Aquin, eine bestimmte Linie der denkerischen Leistungen des christlichen Mittelalters. In diesem fortschreitenden Bestreben, einen Übergang zwischen Welt und Gott „von unten nach oben“ zu schaffen, kann man gewissermaßen als Vorgänger von Thomas schon Abaelard und Alexander von Hales bezeichnen, die die spezifische vermittelnde Funktion der „natürlichen“ philosophierenden Vernunft betonen. Thomas selbst, obwohl er zugibt, dass „die Wahrheit des christlichen Glaubens die Fähigkeit der menschlichen Vernunft übersteigt“,3 ist überzeugt, dass „Gott mit der natürlichen Vernunft erkennbar ist“,4 d.h. mit der Vernunft, die auf unbezweifelte Gewissheiten der Welt und die von ihnen hervorgehenden Denkbewegungen gestützt ist. Während die „Lehre des Glaubens“ (die christliche Theologie in einer nicht notwendig philosophischen Auffassung) sich zuerst mit Gott und dann mit der Schöpfung beschäftigt, geht die „Lehre der Philosophie“ nach Thomas den umgekehrten Weg.5 Die geschaffene Welt ist für ihn – trotz ihren vom mittelalterlichen Christentum oft betonten Kontingenz und Wertambivalenz – die Grundlage der philosophischen Sicherheit. Daran (als an sein „praeambulum“) knüpft nach der Überzeugung von Thomas der Glaube fortlaufend an.
3 Summa contra gentiles, I 7, 42.
4 Summa theologiae, I 2, 2 ad 1.
5 Summa contra gentiles, II 4, 876.
Von diesen Ausgangspositionen aus konzipiert Thomas (in der zweiten quaestio des ersten Teils seiner Theologischen Summe) seine „fünf Wege“ zu Gott. Ihr gemeinsamer Nenner ist der Fortgang vom offenbaren Geschehen der Welt zu der nicht offenbaren göttlichen Ursache. Die grundsätzliche Bindung an die aristotelische Theorie der ontologischen Bewegung in den ersten zwei Wegen ist in den weiteren drei durch die Kategorien des Möglichen und Notwendigen und den Gedanken der Hierarchie der Seienden und der Idee der Finalität bereichert. Gott als der Höhepunkt dieser logischen Konstruktionen führt deren begrifflichen Inhalt zu einer hypothetischen Ganzheit. In ihrem Kontext kann er keine andere Funktion als nur eine wahrscheinliche Erklärung der kosmischen Ordnung haben. Die Logik der Ordnung der Welt und ihrer Sicherheiten führt uns nirgendwohin weiter. In dem überzeugenden Aufweis dieser Grenzen besteht der nicht beabsichtigte paradoxe Wert des monologischen Versuchs von Thomas.
Gegen Ende des Mittelalters verengt schon Duns Scotus nüchtern die allzu selbstsicheren Kompetenzen der weltgebundenen „natürlichen Vernunft“ Gott gegenüber. Er erklärt sogar, dass die Metaphysik nicht an erster Stelle eine philosophische Theologie, sondern eher ein Fragen nach dem Sein oder dem „unendlichen Seienden“ ist, dem erst sekundär die Bezeichnung Gott zukommen könnte. Bei Duns verzichtet die philosophische Theologie in dieser Weise auf sich selbst – ausdrücklich zugunsten der eigentlich theologischen Anerkennung der göttlichen Freiheit. So ist – im Vergleich mit Thomas – die Aufgabe der „übernatürlichen“ Gotteserkenntnis viel mehr betont, denn „man muss sagen, dass der Gottesbegriff, der von der Schöpfung aus gebildet werden kann, unvollkommen ist“.6
6 Commentaria Oxoniensia, prol. 1, 2, 15.
Die Schwäche und das wachsende Stillwerden des aszendenten, von der Schöpfung oder der Welt hervorgehenden Zweiges der philosophischen Theologie erreichen im Werk von Wilhelm von Ockham ihren Höhepunkt: „Es kann nicht evident gewusst werden, dass Gott ist.“7
7 Quodlibeta, I 1.
Jene Linie des antiken und mittelalterlichen monologischen Denkens, die die göttliche Wirklichkeit und ihre Beziehung zur Welt umgekehrt eher von oben konzipiert, d.h. von ihrer philosophischen Intuition oder dem Gottesbegriff her, erscheint zum ersten Mal bei Xenophanes. Obwohl sie in einigem auch den aristotelischen Zweig der philosophischen Theologie inspiriert hat,8 unterscheidet sie sich von ihm durch ihre Einsicht und Verteidigung der Diskontinuität des Übergangs zwischen Welt und Gott. Das von der Sicherheit der Welt hervorgehende philosophische Denken erkennt gerade hier die Überweltlichkeit und das Selbstsein Gottes an und bemüht sich, diese zu begreifen, obwohl sie etwas mehr als nur den erklärenden Hintergrund der Welt darstellen. Namentlich die parmenidische Zäsur zwischen dem nicht entstandenen und nicht untergehenden „Seienden“ und dem geschehenden „Nicht-Seienden“ initiiert in der philosophischen Theologie den Gedanken einer radikalen Losgerissenheit und Unvergleichbarkeit zwischen dem Göttlichen und dem Nicht-Göttlichen. Die oft paradox formulierte Überwölbung dieser Zäsur bei Herakleitos9 verteidigt zwar die von der Welt getrennte Souveränität der Gottheit; gleichzeitig aber auch die latente Geltung der göttlichen Ordnung in der Welt. Dadurch nähert er sich am meisten von allen Vorsokratikern dem ethischen Pathos, mit dem die philosophische Theologie zuerst bei Sokrates und Platon verbunden ist. Platon (und der platonische Sokrates) erkennt nämlich die göttliche Qualität vor allem der Idee des „Guten“ zu.
8 Er „verharrt immer an derselben Stelle, ohne sich zu bewegen; es geziemt ihm nicht, dahin und dorthin zu gehen. (...) ohne Mühe alles mit dem Geiste erschüttert“. (Xenophanes: B 26, B 25; zit. nach Diels – Kranz)
9 Vgl. z. B. Herakleitos: B 75, B 54, B 16.
Durch die Skepsis der Sophisten belehrt, fährt Platon in Sachen des Welt- oder Gotteserkennens nicht mit dem gleichen Vertrauen in die Vernunft fort, wie es die Vorsokratiker getan haben. Er ist schon von der zweifelnden Reflexion belastet: von der Frage, ob das menschliche Denken (das imstande ist, aus diesen oder jenen Gründen so viele verschiedene Auffassungen für wahr zu halten) überhaupt grundsätzlich fähig ist, sich zur Wahrheit durchzuarbeiten als zu einem nicht nur epistemologischen, sondern vor allem ethischen Wert, der das menschliche Leben von der vergeblichen Jagd nach dem Schein aller Art und von der Willkür erlöst, die die Wahrnehmung des unabhängig Seienden durch eine rhetorische Leistung ersetzen möchte. Nach allen vorigen von der Relativität des philosophischen Erkennens bedingten Enttäuschungen ist die Philosophie Platons wesenhaft und bewusst absichtlich auf die Wahrheit ausgerichtet, über die man keinen philosophischen Dialog mehr führen könnte, weil sie nur – zwar auf Grund der propädeutischen begrifflichen Vermittlung, aber dann schon ohne und über diese – eingesehen werden kann.10
10 Vgl. besonders Platons 7. Brief.
Auch das Wissen um Gott wird bei Platon durch diesen konstruktiv skeptischen Anspruch geläutert, der nicht einmal in dieser Sache mehr einfache Extrapolationen vom Weltgeschehen erlaubt. In die philosophische Theologie führt Platon eine neue Dimension ein – die menschliche Seele, mit ihrem Suchen nach der Erlösung aus der uferlosen Relativität der Weltverhältnisse. Die Wahrheit als die Sicherheit des Wissens und die Wahrheit als das absolute Gute fallen hier in eins. Die menschliche Seele, als ein Mikrokosmos in einem Makrokosmos aufgefasst (ihre inneren Strukturen korrespondieren wesenhaft mit der Ordnung des kosmischen Ganzen), ist für Platon eine innere Welt, in der die festesten Sicherheiten unmittelbar zugänglich sind, die in der äußeren Welt von den beweglichen Schichten des schattigen Scheins verhüllt bleiben. Diese ontologischen Sicherheiten der Seele – die Welt der Ideen – haben schon an sich selbst eine göttliche Qualität; sie sind vom Guten durchstrahlt, das nur von einer intellektuellen Anschauung wahrgenommen werden kann und von dem aus man erst zu einer wahren Erkenntnis der äußeren Welt kommen kann.
Die Verankerung in der Welt hat sich also in der Philosophie Platons in der Verankerung in der geistigen Welt der Ideen sublimiert. In ihr ist „das Göttliche“ Platons dem menschlichen Denken ganz unmittelbar zugänglich. Die Erkenntnis der Welt der Ideen begründet dann die Möglichkeit, die deszendente Projektion des Göttlichen in die materielle (sichtbare) Welt zu betrachten. Das Zuschreiben der göttlichen Qualität nicht nur der polytheistischen Pluralität der Götter11 und nicht nur dem kosmischen Demiurg,12 sondern vor allem dem Höchsten, das dem Menschen auf natürliche Weise überhaupt zugänglich ist – der Idee des Guten13 – hat (für Platon und für fast die ganze von seinem Denken hervorgehende Tradition) die Probleme, die mit einer möglichen potentiell dialogischen Frage nach Gott, der alles menschlich Denkbare unendlich überstiege, verbunden sind, abgeschoben. Der Gedanke Platons von dem unmittelbaren Kontakt des Menschen mit den höchsten Sicherheiten seiner inneren Welt ist auf diese Weise neben dem Gedanken des Aristoteles von der Extrapolation der am meisten allgemeinen Sicherheiten der äußeren Welt zu einem von den zwei alternativen Pfeilern geworden, auf denen der Monolog fast der ganzen philosophischen Theologie der Antike und des Mittelalters beruht.
11 Nomoi, 885–889.
12 Timaios.
13 Politeia.
Der erste, der noch in Griechenland die philosophische Theologie Platons ausdrücklich schöpferisch weitergedacht und systematisch entfaltet hat, war Plotin. Die Exklusivität des Göttlichen führt er aber nicht wie Platon primär vom Gegensatz des Vergänglichen und Ewigen, sondern von der Differenz des Einen und Vielen her. Die Verschiedenheit der Dinge (einschließlich der Welt der Ideen) begreift er nur als einen negativen Zustand – eine Situation der gegenseitigen Entfremdung, der Disharmonie, der Feindlichkeit. Die ganze Wirklichkeit sehnt sich jedoch – nach Plotin – nach der Einheit, aus der sie ursprünglich entstanden ist. Seine philosophische Theologie kreist demnach um den zentralen Begriff hen – um das Eine – das zwar in allem (denn alles ist aus ihm hervorgegangen), aber zugleich über allem ist und dies auf solche Weise, dass man es nur mit negativen Ausdrücken kennzeichnen kann: das Nicht-Seiende, Nicht-Sein, Unaussprechliche, Namenlose,... Damit eröffnet Plotin eine Denkweise in Bezug auf Gott, die schon sehr stark an die Grenzen des monologischen Zugangs stößt, ohne ihn doch zu verlassen: die negative Theologie.
Die konsequente Erhabenheit Gottes, die so groß ist, dass er – obwohl alles von ihm entstanden ist – doch keine Beziehung zu irgend etwas davon hat, hindert14 den Menschen doch nicht daran, dass er sich mit ihm durch ekstatische Einsicht in seiner Seele vereinige und identifiziere und so denselben ersehnten Abstand zum Elend der Welt erreiche. Diese spirituelle Motivation der philosophischen Theologie verstärkt sich besonders im späten Neuplatonismus, an dessen Auffassung Gottes die Gnosis lückenlos anknüpft. Die Konzeption des schweigenden Gottes, der die Welt in Verlassenheit belässt, begründet vollständig die resignierende menschliche Abwendung von der Welt, die für die späte Antike so charakteristisch ist. Die Gnosis bringt zugleich die extremen Äußerungen der spekulativen Phantasie der philosophischen Theologie der damaligen Zeit: Zwischen Gott und der Welt wird in vielen Varianten eine komplizierte Stufenleiter von Zehnern von Äonen konstruiert, die ideelle Dimensionen des Seins darstellen, die genealogisch absteigend über dem Sein dieser Welt geordnet sind.
14 Enneades, III, 9, 9.
Das spirituelle Ethos des platonischen Zweigs des Denkens um Gott wurde zuletzt zu einer annehmbaren Voraussetzung der Synthese dieses Typus der philosophischen Theologie mit der neu entstandenen christlichen Spiritualität. Diese Synthese kann auch als ein Zeichen des Verfalls des neutralen philosophischen Status dieser Variante der philosophischen Theologie legitim erklärt werden: Die Tatsache, dass sie von Anfang an (schon wegen der persönlichen orphischen Orientierung Platons) zu einer begrifflich durchgearbeiteten Heilslehre geworden ist, äußerte ihre mögliche Bereitschaft, sich auch einer nicht-philosophischen Heilslehre zu unterstellen – dem „natürlichen“ Suchen (Stoa) zu entsagen und ihre begriffliche Ausstattung dem Dienst der Theologie zu übergeben.
Die Synthese der philosophischen Theologie und der christlichen Glaubenslehre15 kann man in gewisser Hinsicht auch als eine Falle für beide Seiten bewerten: Der lebendige christliche, ursprünglich dialogische Zugang zu Gott wurde durch den monologischen Apparat des philosophischen Denkens sofort selbst in seinem Grund gelähmt;16 auf der anderen Seite wurde die ursprüngliche grundsätzliche Unabhängigkeit des philosophischen Denkens um Gott durch diese enge Verbindung mit dem christlichen Glauben auf Jahrhunderte eingeschränkt (erst der neue Durchbruch der aristotelischen Linie hat sie zum Teil probeweise erneuert). Jedoch kann eine tiefere Einsicht enthüllen, dass es gerade diese Verbindung der Philosophie mit dem christlichen Glauben war, die verhältnismäßig bald die philosophische Theologie zur grundsätzlichen Erkenntnis der Begrenzung ihrer monologischen Variante geführt hat: Die Philosophie, die programmatisch vor Gott still wird – wobei diese neue Einsicht auch zur Quelle und zum Grund ihrer erneuten Unabhängigkeit geworden ist – entsteht (wie wir noch sehen werden) als eine parallele Variante des monologischen Denkens um Gott schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kultur. Einige Elemente dieses Stillwerdens kommen bisweilen auch in die monologisch gehaltene Rede von Gott, ohne jedoch dadurch ihre eigene Entwicklung zu blockieren.
15 Die Christen „sagen etwas Ähnliches wie die Griechen“ (Justinus: Erste Apologie, 24). „Die wahre Philosophie ist die wahre Religion, und umgekehrt die wahre Religion ist die wahre Philosophie“ (Johannes Scotus Eriugena: De divina predestinatine, I, 1). „Die Philosophie ist nichts als die Auslegung der göttlichen Weisheit“ (Roger Bacon: Opus maius, II, 18). U. ä.
16 Vgl. auch die gnostische oder neuplatonische Eliminierung des historischen Jesus. (Erst mit einer gewissen Verspätung ist z.B. die „christliche Gnosis“ von Clemens und Origenes aus dem Korpus des christlichen Bezugsgefüges ausgeschieden worden.)
Die platonische Linie dieser Entwicklung setzt sich in der späten Antike im Werk des Augustinus fort. Seine Auffassung von Gott änderte sich mit dem fortschreitenden Wechsel seiner philosophischen Ausgangspunkte – vom Manichäismus über den Skeptizismus zum Neuplatonismus. Sie stabilisierte sich zuletzt in einer eklektischen Form: Vom Manichäismus übernahm Augustinus die Vorstellung der göttlichen Unveränderlichkeit und Einfachheit, vom Neuplatonismus den Begriff Gottes als einer rein geistigen Wirklichkeit. Sein persönlicher Weg zu Gott durch Jesus Christus der Evangelien gewährte ihm den existentiellen Hintergrund und die geistige Sicherheit in seinen späten Kämpfen mit den Einseitigkeiten der damaligen theologischen Spekulationen, die versuchten, mit Hilfe der philosophischen Ausrüstung das Geheimnis der außerphilosophischen christlichen Erfahrung Gottes auf das oder jenes leicht fassliche und pragmatisch annehmbare begriffliche Schema zu reduzieren. „Die Richtigkeit des Weges bis zur Gottesanschauung (...) ist in der Wahrheit der Heiligen Schriften verkündet und gewährleistet.“17 Gegen ihre Komplexität kann nach Augustinus keine nur mit philosophischen Mitteln begründete Doktrin bestehen. Deswegen gibt Augustinus sein philosophisches Ingenium – paradigmatisch für das ganze Mittelalter – in den Dienst des kirchlichen theologischen Glaubens, der sich an die Sukzession seiner Übergabe von den unmittelbaren Zeugen des Wirkens Jesu bis zu den späteren Bischöfen stützt und dem individuellen Intellekt vorausgeht, ihn übersteigt und ihm Orientierung gibt. „Crede ut intelligas.“18 Fügen wir jedoch hinzu, dass von dieser rezeptiven Behinderung der Unabhängigkeit des philosophischen Denkens weder für Augustinus noch für jemand von seinen Nachfolgern eine Vorzugsstellung des vom Intellekt unberührten Glaubens vor dem philosophisch eingesehenen und durchdachten Glauben folgt.
17 De civitate Dei, X, 32.
18 Sermones, CXVIII, 1.
Bei Augustinus taucht wieder – ohne die gnostische, weltverachtende Überschichtung – der Kern der platonischen Orientierung auf, die Gott nicht bloß als den erklärenden Hintergrund der Welt, sondern vor allem als die Instanz auffasst, die den Menschen erstens um ihretwillen selbst, von der Welt unabhängig, und nur sekundär um der natürlichen Gegebenheiten willen interessiert.19 Die Gotteserkenntnis kann nach Augustinus eher durch die Selbsterkenntnis als durch die überwiegende Orientierung an äußeren Dingen eingeleitet werden.
19 Über seine naturwissenschaftlichen Studien sagt Augustinus: “Unglücklich der Mensch, der all jenes weiß, dich (Gott) aber nicht weiß; glücklich aber, wer dich weiß, auch wenn er jenes nicht weiß.“ (Confessiones, V, 4, 7)
Durch seine klassischen, kategorial bestimmten Formulierungen der Wirklichkeit Gottes hat Augustinus die philosophische Theologie des ganzen Mittelalters beeinflusst. Gott ist für ihn das, was am meisten ist: „summa essentia“, „idipsum esse“; alles Geschaffene partizipiert an den in seinem Geist bestehenden Ideen. Gleichzeitig ist Gott allerdings auch das, was am meisten gut ist: „bonum omnis boni“, „summum bonum“; das ist der tiefste Grund der Affinität „des menschlichen Herzens“ zur personalen Wirklichkeit Gottes.
Die platonische Formulierung der inneren intellektuellen Erfahrung des Göttlichen ist der grundlegende Ausgangspunkt der philosophischen Theologie auch bei den Nachfolgern von Augustinus: Anselm, Bonaventura, aber besonders derer, die die innere Erfahrung bis zu denjenigen Dimensionen erweitert haben, an denen der philosophische Monolog seine Ungenügsamkeit kommentiert und zum Stillschweigen kommt.20 Gerade diese Denker waren fähig, in die mittelalterliche, in den von der Antike vorgegebenen Linien reich entfaltete philosophische Theologie noch etwas Wesentliches zu bringen.
20 Siehe das folgende Kapitel.
* * *
Das neuzeitliche monologische Fragen nach Gott geht nicht mehr von der alten und immer mehr erschütterten Sicherheit der äußeren oder inneren Welt, sondern von der systematisch entdeckten Sicherheit des vernünftigen Ich aus und strebt danach, von dieser zur Sicherheit Gottes zu kommen. Die Strukturen des menschlichen Denkens werden hypothetisch in den Bereich des Absoluten projiziert und sollen rückwirkend zum theoretischen Garanten der faktisch sich entwickelten praktischen Selbstsicherheit des Menschen werden. Nur dort, wo es der Philosophie vielleicht weniger um diese Selbstsicherheit und mehr um Gott selbst geht, nähert sie sich dem Überschreiten der Grenzen ihres Monologs.
Die antike und mittelalterliche Sicherheit der (wie auch immer unvollkommenen) Welt als der selbstverständliche, aber nach und nach zusammenbrechende Ausgang der philosophischen Theologie wurde von Descartes als dem ersten prinzipiell abgelehnt.21 Seine denkende Subjektivität findet in sich selbst die „eingeborene Idee Gottes“ als die Stütze seiner Selbstgewissheit gegenüber der Welt und auch gegenüber dem, was in dieser Subjektivität selbst endlich und unvollkommen ist. So wird zu Beginn der Neuzeit Gott zum ersten Mal als der „vollkommene“ und „unendliche“ Hintergrund des unerschütterlich denkenden Menschen gedacht.
21 Meditationes de prima philosphia.
Während Descartes sich noch mit Gott nur als mit dem Garanten des „klaren und deutlichen Erkennens“ beschäftigt, macht Spinoza aus ihm das zentrale Thema seines gesamten Philosophierens. Dabei übernimmt er von Descartes den Gedanken des Unendlichen, und mit dessen Hilfe verbindet er Gott fest mit der Welt. Gott ist für ihn die „absolut unendliche Substanz“22 – so dass außer ihm eigentlich nichts anderes existiert.23 Dieser „Deus sive natura“ ist für ihn nicht mehr Schöpfer, sondern nur die immanente Ursache oder die innere Notwendigkeit der Welt. Der menschlich gangbare Weg zu Gott ist für Spinoza der „amor Dei intellectualis“24 – „ein Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selber liebt“25.
22 Opera II, Heidelberg 1925, 45.
23 „Was immer ist, ist in Gott.“ (Ebd. 56)
24 Ebd. 300.
25 Ebd. 302.
Dieser radikale Versuch, Gott der ehrgeizigen menschlichen Rationalität zugänglich zu machen – die bei Spinoza ein Teil des göttlichen Denkens ist – wurde zum entscheidenden Impuls für weitere, ähnlich systematische Versuche, die zuletzt im „absoluten Wissen“ Hegels ihren Höhepunkt erreichen. Ihr Bestreben war – außer anderem – der philosophischen Theologie wieder ihre Unabhängigkeit vom christlichen Glauben zurückzugeben. Das Ergebnis war allerdings eine Unabhängigkeit, die durch die Art ihres Erreichens begrenzt war, nämlich durch die Technik der Absorption, wodurch der Glaube durch die Rationalität gleichsam überdeckt und ersetzt werden sollte. Schon im System von Leibniz wird in diesem Sinn das bisherige epistemisch richtunggebende Verhältnis von Glaube und Vernunft ausdrücklich umgekehrt – die Vernunft wird (im polaren Gegensatz zum zitierten Augustinus) zum expliziten Maßstab der Wahrhaftigkeit der Behauptungen der christlichen Glaubenslehre.26 Von diesem Optimismus des frisch geborenen Rationalismus ist bei Leibniz auch die Beziehung Gottes – der „einfachen ursprünglichen Substanz“27 – zur Welt erhellt: Gott ist „moralisch gebunden“, „die beste von allen möglichen Welten“ zu schaffen.
26 „Wenn die Einwürfe der Vernunft gegen irgendeinen Glaubensartikel unauflöslich sind, wird man sagen müssen, dass dieser vorgebliche Artikel falsch und nicht geoffenbart sein wird. (...) Was gegen die Vernunft ist, ist gegen die absolut gewissen und unerlässlichen Wahrheiten. (...) Wir brauchen den geoffenbarten Glauben nicht, um zu wissen, dass es ein (...) einziges Prinzip aller Dinge gibt, vollkommen gut und weise. Die Vernunft lehrt es uns durch unfehlbare Beweise.“ (Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Berlin 1875–1890, BD. VI, 73, 64, 75). Die Beweise von Leibniz, die sich teilweise an die Tradition stützen, sind vier: vom Begriff Gottes als des notwendigen Wesens, von der Realität der ewigen Wahrheiten, von der Kontingenz der Dinge und von der prästabilierten Harmonie der Wirklichkeit.
27 Ebd. 614.
Durch den durchdringenden analytischen Auftritt Kants (von dem in einem anderen Zusammenhang noch die Rede sein wird) wurde diese selbstbewusste Linie vorübergehend verunsichert. Sein Schüler Fichte hält dann die leibnizsche Notwendigkeit des höchsten Guten für theoretisch nicht mehr beweisbar. Sie ist für ihn eine praktische Gewissheit, die durch den moralisch motivierten Glauben, ja sogar durch das unmittelbare Bewusstsein von der Existenz Gottes begründet ist. Zur Verbindungsbrücke zwischen dem vernünftigen Ich und Gott wird so nicht mehr eine theoretische Begründung, sondern die reflektierte Unterstellung des eigenen Willens dem absoluten Zweck der moralischen Ordnung dienlich. Durch diesen kantischen praxeologischen Zugang wird der philosophischen Theologie eine ganze neue Dimension der eigenen Entwicklung eröffnet. Ihre solcherart erneute Unabhängigkeit von der glaubensmäßigen Theologie wird nicht durch eine gewaltsame leibnizisch-hegelische Mühe, sie zu ersetzen, sondern durch eine mehr berechtigte und spezifisch philosophische neutrale Vorsicht gewonnen: durch das genaue Wissen um eigene Erkenntnismöglichkeiten und deren eifersüchtig überwachten selbständigen Gebrauch. Wir werden sehen, dass es in dieser (kantischen) Linie dem jungen Fichte für einen Augenblick gelungen ist, bis an die Schwelle der dialogischen philosophischen Theologie zu gelangen. Der reife Fichte fühlt sich jedoch im Gegenteil verpflichtet, seine philosophische Theologie als ein monologisches System auszubauen.28 In ihm bemüht er sich sogar, vier Bestimmungen des „inneren Seins Gottes“ zu formulieren: das Sein durch sich selbst, die Selbstgenügsamkeit, innere Einheit, Unveränderlichkeit. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott wird als Anteilnahme eines jeden einzelnen an Gottes absolutem Wissen gekennzeichnet: „Inwiefern wir das Wissen sind, sind wir selber in unserer tiefsten Wurzel das göttliche Dasein.“29 Diese menschliche Vereinigung mit dem Absoluten verwirklicht sich in der Liebe, die allerdings im Rahmen des spekulativen idealistischen Schemas nicht als eine offene dialogische Angelegenheit, sondern als ein alles vereinigender spinozistischer Monolog verstanden wird: „Unsere Liebe zu ihm (...) ist seine eigene Liebe zu sich selber.“30 Durch die Teilnahme an ihr bestätigt der Mensch rückwirkend in der höchstmöglichen Weise seine Selbstgewissheit: „Man muss in eigener Person das Absolute sein und leben.“31
28 Wissenschaftslehre. In: Werke, Bd. V, Leipzig o. J. (F. Medicus, Hg.).
29 Ebd. 160.
30 Ebd. 252.
31 Ebd. 322.
Die ähnlich spekulative philosophische Theologie Schellings stellt die abschließende Phase seines Denkens dar, in der sich der Begriff des Absoluten endlich aus dem egologischen Kontext loslöst und für die allumgreifende Wirklichkeit reserviert wird. Schellings Gott trägt die Züge der absoluten Identität (in der alle Differenzen verschwinden), besitzt personale Natur und seine eigene Geschichte – er schafft sich selbst. „Gott (...) ist nicht wirklich, er wird wirklich.“32 Er veräußerlicht sich schmerzhaft in die dunkle Natur – alles Endliche ist „leidender Gott“33 – und erst im Menschen, durch die Philosophie, kann er seine Selbsterkenntnis, Befreiung, Rückkehr zu seiner Absolutheit erlangen. Die menschliche Vernunft ist also solcherart das helfende Organ der göttlichen Vernunft.34
32 Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke, Stuttgart – Augsburg 1856–1861, Bd. VIII, 308.
33 Ebd., IV, 252.
34 Ebd., VI, 143, 172.
Nach Hegels Meinung hat die Philosophie denselben thematischen Inhalt wie die (christliche) Religion. In der Philosophie wird er jedoch in einer vollkommeneren Form erfasst: nicht mittels „Vorstellung“, sondern mittels Begriff. Dadurch gewinnt – nach Hegel – die Philosophie über die Religion (oder die Vernunft über den Glauben) grundsätzlich die Oberhand, denn erst sie stellt durch ihre begriffliche Form die echt eigentliche religiöse Wahrheit sicher.35 „Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar.36 Er wird bei Hegel als „absoluter Geist“ begriffen. Seine Absolutheit bedeutet die Synthese aller, und zwar positiver und auch negativer Prädikate (deren gegenseitige Differenzen freilich erhalten bleiben – zum Unterschied von der Auffassung Schellings, weil ihre „Aufhebung“ dialektisch, im Sinn des Wortes „aufheben“, gemeint ist) und zugleich damit bedeutet sie auch die Synthese der höchst allgemeinen Gegensätze: zwischen Subjekt und Objekt, Denken und Sein, Wesen und Erscheinung, Identität und Nichtidentität. Zu dieser statischen Bestimmung Gottes als des „Absoluten“ tritt bei Hegel seine dynamisierende Identifizierung mit dem „Begriff“ hinzu (der Schlüsselkategorie seiner ganzen Philosophie), der für Hegel eine lebendige Wirklichkeit ist, Quelle von allem, was es gibt, und Maßstab der Wahrhaftigkeit, d. h. dessen, was diese oder jene Sache sein soll. „Die logischen Bestimmungen überhaupt können (...) als die metaphysischen Definitionen Gottes angesehen werden.“37 So ist der „Begriff“ als Gott bei Hegel „die absolute Idee“ – die dialektische Einheit der Selbstentäußerung in der Welt und des Beharrens bei sich, bzw. der Rückkehr zu sich. Und die Grundbezeichnung für Gott – „absoluter Geist“ – krönt diese Einheit mit dem Aspekt des Selbstbewusstseins: Der Geist ist das, was nicht nur „an sich“, sondern auch „für sich“ ist. Hegels Gott ist also das Absolute, das sich selbst schafft, sich entäußert, sich im andern anschaut und von sich weiß. Diese letzte, wichtigste Phase der selbstbildenden Aktivität Gottes wird nach Hegel durch die Philosophie und auf deren Boden durch die theologische Konzeption Hegels vermittelt. So bringt Hegel das neuzeitliche Suchen Gottes im Denken des selbstgewissen vernünftigen Ich mit unübertrefflicher spekulativer Vollkommenheit zu seinem Höhepunkt.
35 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Leipzig 1925, Bd. I, 295.
36 Phänomenologie des Geistes, Hamburg 19522, 530.
37 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Hamburg 19596, 105.
Auch im Rahmen des gesamten philosophischen Monologs um Gott sagt Hegel gerade das letzte, erschöpfende Wort. Seine philosophische Theologie ist der Gipfel des monologischen Weges, dessen einzelne Abschnitte zwar mit Nutzen tradiert und nach Belieben in unwesentlichen Variationen abgewandelt werden können,38 der aber nicht mehr weiter oder höher führt.
38 Vgl. z.B. den Neuthomismus, die Prozessualtheologie, die neugnostischen Konzeptionen u. a.
Stillwerden
Eine negative Bestätigung der Option, über Gott von anderen als monologischen Ausgangspunkten aus zu philosophieren, ist in erster Reihe der nachhegelianische philosophische Atheismus.
Die totale Synthese Hegels war so überzeugend, dass auch der Dissens von ihr sich bei einigen Denkern nicht anders äußern konnte als nur in der negativen Abhängigkeit von ihr – als von der einzig möglichen Alternative, mit deren Versagen die Möglichkeit der philosophischen Theologie überhaupt zu scheitern schien. Im Anfangsstadium dieses neuen Atheismus wird zugleich unkritisch die hegelsche Identifizierung von Begriff und Wirklichkeit übernommen: Wenn wir die Unglaubwürdigkeit oder Überflüssigkeit des Begriffs von Gott nachweisen, haben wir damit auch über seine Wirklichkeit selbst gleichsam entschieden. Diesen Sinn hat sowohl der Ausruf Nietzsches „Gott ist tot, wir haben ihn getötet“, als auch die Deklaration von Marx „Die Religion ist das Opium des Volkes“ (d.h. sie ist bloß eine Ideologie). Die philosophische Theologie kommt hier deswegen zum Stillwerden, weil das Reich der bloßen Ideen ihre Aussicht beschattet und ihr offenes Fragen blockiert hat. Das hegelsche „Weh den Tatsachen“ überdauert auch bei seinen Opponenten.
In einer breiteren Betrachtungsweise geht es jedoch beim modernen Atheismus um die negative Kontinuität der grundsätzlichen Linie der neuzeitlichen philosophischen Theologie überhaupt. Wir haben gesehen, dass Hegels „Gottes Selbstbewusstsein, welches sich in dem Wissen des Menschen weiß“39, nur die letzte, reifste Formulierung des konstant sich wiederholenden Motivs der Selbstidentifikation des menschlichen Denkens mit der höchsten, sich selbst bewusst werdenden oder sich selbst liebenden Stufe des göttlichen Seins ist (Spinoza, Fichte, Schelling u. a.). Von dieser diskutablen Prämisse des neuzeitlichen Monologs kann man legitim den Schluss folgern, dass, wenn wir aufhören, Gott zu denken oder zu lieben, wir imstande sind, ihm seine eigene Selbstverwirklichung unmöglich zu machen. Dieser implizite Gedankengang ist in der Wurzel des Atheismus enthalten, der auf dem neuzeitlichen Postulat der verabsolutierten menschlichen Selbstgewissheit beruht, die zuletzt philosophisch festgestellt hat, dass sie sich ohne den Umweg der Gottesbeziehung – die in den neuzeitlichen Konzeptionen zuletzt nur deren Funktion ist – ganz gut behilft. Gott ist „Menschen-Werk und -Wahnsinn“.40 Die Konzeptionen der Identität des menschlichen Wissens um Gott und des göttlichen Selbstbewusstseins haben gleichsam bewiesen, dass der Mensch – dank seiner Vernunft – „Gott“ ist. Hegel bestimmt menschliches Wissen explizit als das „endliche Bewusstsein dieses Gottes, der sein Wesen ist“.41 Und Feuerbach: „Das Wissen von Gott ist das Wissen des Menschen von sich, von seinem eigenen Wesen.“42 Darum nennt Feuerbach seinen Atheismus auch „Anthropotheismus“.43 Der Begriff, die Vorstellung und Existenz Gottes werden in dieser Denksituation sofort überflüssig44 und entfremdend45. Das Menschliche und Göttliche kann von nun an mehr und mehr gegeneinander gestellt werden.46
39 Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, Leipzig 1930, 49.
40 Nietzsche’s Werke, Leipzig 1894 ff., Bd. VI, 42.
41 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Leipzig 1925, Bd. IV, 4.
42 Sämtliche Werke, Stuttgart 1959–1964, Bd. II, 222.
43 Ebd., XIII, 393.
44 Gott ist „ganz überflüssig“ (Nietzsche’s Werke, Leipzig 1894 ff., Bd. X, 491).
45 „Gott ist das Ideal des menschlichen Wesens, angeschaut als selbständiges wirkliches Wesen.“ (Feuerbach: Sämtliche Werke, Stuttgart 1959–1964, Bd. VII, 264).
46 „Ich verneine nur das phantastische Scheinwesen der Theologie und Religion, um das wirkliche Wesen des Menschen zu bejahen.“ (Ebd., VIII, 29). Vgl. auch die spätere Konzeption der kontradiktorischen Beziehung zwischen Gott und Mensch bei Sartre.
Die philosophische Theologie kann dem modernen Atheismus darin völlig recht geben, dass der auf den Menschen und seine Philosophie angewiesene „Gott“ kein Gott ist. Im modernen Stillwerden der monologischen Rede um Gott ist jedoch nicht nur ein Element der Resignation enthalten, die zum Grund des weitgehenden Ersetzens der philosophischen Theologie durch die Religionsphilosophie oder Phänomenologie der religiösen Erfahrung oder Analyse der religiösen Sprache geworden ist (wodurch die Philosophie systematisch auf die direkte Thematisierung Gottes verzichtet) – sondern sie lässt auch eine neue Hoffnung entspringen: Nach Heideggers Meinung ist „das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophen, den Gott als Causa sui preisgeben muss, dem göttlichen Gott vielleicht näher“.47 Aber auch Heideggers Suchen nach diesem Gott bleibt in den Grenzen des Monologs befangen (Heidegger lässt nicht einen anderen als nur irgend „einen Gott“ gelten, der inmitten der heideggerschen „Konstellation des Seins“ gedacht wird), und darum kommt es auch nicht weiter als zur Feststellung der „Grenzen, die dem Denken als Denken gesetzt sind“.48
47 Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 71.
48 Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, 37. Also „zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen“. (Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 51) „Die Götter und der Gott sind entflohen.“ (Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, 248) Die einzige „Spur“ für eine mögliche Erwartung ihrer Rückkehr bleibt „das Heilige“ (ebd. 250).
Aber neben anderem bezeugt auch Heideggers „nur ein Gott kann uns noch retten“49 die tiefe Veränderung im Bereich der menschlichen Gewissheiten, die während der anfangs atheistisch beeinflussten modernen Zeit vor sich gegangen ist: Die neuzeitliche „Selbstgewissheit“ des vernünftigen Ich, welche die zweifelhafte „Sicherheit“ der Welt der früheren Zeiten ersetzt hat, ist im Laufe der Zeit ebenfalls zusammengebrochen. Der absolute Relativismus der Postmoderne ermöglicht uns endlich voll zu begreifen, dass Gott entweder der ist, der sowohl die Sicherheit der Welt als auch die Gewissheit des vernünftigen Ich begründet – oder dass man in der philosophischen Theologie tatsächlich nichts mehr worüber zu reden hat.
49 Interview, Der Spiegel, 31. 5. 1976 (Nr. 23).
In diesem Zusammenhang ist es bedeutend, dass das Stillwerden des philosophischen Monologs neben dem (eher stillmachenden als stillwerdenden) modernen Atheismus auch eine andere Variante haben kann: diejenige, die nicht so sehr durch den ins Dogma verwandelten hypothetischen Mangel – „man hat nicht mehr worüber zu reden“ – als eher umgekehrt durch einen intensiv erlebten Überfluss – man hat worüber zu schweigen – begründet ist. Wir haben erwähnt, dass diese Art des Stillwerdens die Geschichte der philosophischen Theologie mindestens seit der späten Antike durchzog. Wir werden sehen, wie seine Varianten nach dem Maß der Annäherung zum möglichen Dialog schwanken.
Das Göttliche ist „mehr und größer, als was von ihm gesagt wird, (...) höher als Wort und Geist“. So drückt Plotin50 die Voraussetzung eines positiven (nicht-atheistischen) Stillwerdens der philosophischen Theologie aus – eine intellektuelle Erfahrung, dass die Fülle Gottes die Möglichkeiten des menschlichen Ausdrucks übersteigt.
50 Enneades, V, 3, 14.
Von den christlichen Denkern hat sich zu diesem Stadium der Rede von Gott – in Anknüpfung an Plotin – zuerst Dionysios Areopagita durchgearbeitet. Er spricht davon, dass Gott „für alles Ursache des Seins“ ist, „die aber selbst nicht ist, weil über alles Sein hinaus ist“.51 Gott „ist auch aller Erkenntnis entzogen“52 und „unaussprechlich“53. Sein „Strahl der göttlichen Dunkelheit“54 ist „weder Wahrnehmung, noch Vorstellung, noch Meinung, noch Namen, noch Rede, noch Berührung, noch Verstehen“55 zugänglich – Gott ist verborgen, man kann ihm nur mit den Ausdrücken der negativen oder apophantischen Theologie oder mit den Benennungen, die seinen „Überschwang“ (hyperoche) andeuten, näher kommen: „das Übergute, das Überseiende, das Überlebendige, das Überweise“.56 Gott ist hyperagnoston: „das Überunerkennbare“.57 Die affirmative Theologie, die negative Theologie und die Theologie dieses Überflusses sind bei Dionysios in das dreistufige philosophische System integriert, in dem als das letzte Wort das „epekeina ton holon“ – „über alles hinaus“58 gilt. Somit wird die stillwerdende Theologie zur Mystagogie – zur Hinführung zum unmittelbaren Kontakt mit Gott: zum Heraustreten (ekstasis) aus sich und aus allem, zu dem „das Unsagbare in besonnenem Schweigen verehrend(en)“59 Aufstieg – zuletzt zur Vereinigung mit diesem Unaussprechlichen.60
51 De divinis nominibus, I, 1.
52 Ebd., I, 4.
53 Ebd., V, 1.
54 De mystica theologia, I, 1.
55 De divinis nominibus, I, 4–5.
56 Ebd., II, 3.
57 De mystica theologia, I, 1.
58 Ebd., V, 1.
59 De divinis nominibus, I, 3.
60 De mystica theologia, III.
Obwohl sich Dionysios bemüht, sich in seinen Texten auf die Schrift zu berufen, tut er es erst nachträglich – um zu zeigen, dass seine Philosophie nicht im Widerspruch mit der biblischen Offenbarung stehe. Ein selbständiger Zugang zu Gott (ein Zugang, der sich in einer unabhängigen und trotzdem nicht konflikthaften Beziehung zum Glauben verhält) ist hier auch damit sichergestellt und ausgedrückt, dass Dionysios die philosophische Theologie nicht zum Werkzeug der „natürlichen Vernunft“ degradiert, wie es die Mehrheit der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophen tut. Das Überschreiten des philosophischen Monologs zum ek-statischen philosophischen Stillwerden ist genau deswegen möglich, weil die philosophische Theologie bei ihm nicht ihrer über-vernünftigen Komponente verlustig geworden ist,61 die ihren Kontakt mit der Wirklichkeit gewährleistet. Für die philosophische Theologie von Dionysios ist weder die „Sicherheit“ der Welt noch die „Sicherheit“ des vernünftigen Ich die Stütze, sondern die direkte theologische Erfahrung, die die beiden „Sicherheiten“ übersteigt. Auf dieser Erfahrung kann man die philosophische Theologie begründen als einen Weg zu Gott, der nicht nur als die letzte Ursache oder die höchste Idee gemeint ist, sondern zu Gott als Gott – der das Sein und das Denken übersteigt. Daher ist der letzte und entscheidende Schritt zu ihm nicht ein impliziter philosophischer Monolog, sondern das explizite philosophische Stillwerden.
61 „Über die Vernunft hinaus erkennen“ (Ebd., I, 3).
Der Übersetzer von Dionysios ins Lateinische, Joannes Scotus Eriugena, hat sich auch als sein Fortsetzer profiliert. Der cantus firmus seines philosophischen Systems62 ist die Feststellung der Unaussprechlichkeit Gottes. Gott ist „über alles hinaus, was von ihm ausgesagt wird“.63
62 Nach Eriugena präsentiert sich Gott auf viererlei Weise: als eine Instanz, die „schafft und nicht geschaffen ist“ (der Ursprung von allem), die „nicht schafft und nicht geschaffen ist“ (das Ende und das Ziel von allem), die „geschaffen ist und schafft“ (die Welt der Ideen), und die „geschaffen ist und nicht schafft“ (die Welt der Dinge). (De divisione naturae, I, 1) Die philosophische Theologie ist also bei Eriugena eine Rede über die ganze Wirklichkeit.
63 Ebd., I, 76.
Durch den Neuplatonismus von Dionysios sind auch Bernhard von Clairvaux, Hugo und Richard vom heiligen Viktor und auch Bonaventura beeinflusst. Zum Unterschied von Eriugena arbeiten sie mehr den stufenartigen Weg des kontemplativen Denkens zu Gott durch. Sie geben die metaphysischen Spekulationen mehr oder weniger – zugunsten der Reflexion der mystischen Erfahrung – auf: Der Schwerpunkt ihrer philosophischen Theologie liegt mehr in der Systematisierung des menschlichen Stillwerdens als in der Beschreibung der göttlichen Unaussprechlichkeit. Soweit sie die Wirklichkeit Gottes direkt thematisieren, dringen sie auch in die Bereiche ein, die ursprünglich der dogmatischen Theologie vorbehalten wurden (die göttliche Trinität). Bonaventura dürfte zuletzt am ausdrücklichsten die „unzugängliche Finsternis, die gleichwohl erleuchtet“, dionysisch feststellen.64
64 Collationes in Hexaëmeron, XX, 11.
Im Laufe des Mittelalters hat Meister Eckhart die „still werdende“ philosophische Theologie am schöpferischsten entwickelt. Er hat seinen Abschied von den illusorischen Sicherheiten der gesamten Schöpfung – welche die Grundstütze des monologischen Philosophierens von Gott darstellen – als die Loslösung von den Sachen und von sich selbst, als die „Armut des Geistes“, in der der Mensch ergeben „auf einem bloßen Nichts steht“,65 formuliert. Sodann kann er in den Kontakt mit Gott geraten, der nach Eckhart „im Grunde der Seele vorborgen liegt“,66 und dies sogar (nach der Schätzung Eckharts) „mit aller seiner Gottheit“ erfahren. „(...) die Nähe Gottes und der Seele, die hat in Wahrheit keinen Unterschied.“67 Diese erlebte Vereinigung steht jedoch zugleich über allem Erkennen und Aussagenkönnen. Obwohl Eckhart bisweilen versucht, Gott begrifflich als das Sein (esse, esse simpliciter, ens aut esse absolute) zu erfassen, aber auch als Nichtsein oder Nichts oder als den Ursprung aller Dinge, der ihnen innerlicher ist, als sie sich selbst sind, oder auch als das, was der Mensch wird, wenn er sich von allem loslöst,68 als den reinen Intellekt u. ä., zu bezeichnen, verzichtet er wieder – im Sinne von Dionysios Areopagita, auf den er sich oft beruft – auf eine definitive Aussage: „Gott ist namenlos, denn von ihm kann niemand etwas sagen noch verstehen.“69
65 Die deutschen Werke, Stuttgart – Berlin 1936 ff., Bd. V, 423.
66 Ebd. 219.
67 Ebd., I, 1962. “Hier ist Gottes Grund mein Grund, und mein Grund Gottes Grund.” (Ebd. 90) „Gott und ich, wir sind eins.“ (Ebd. 114) Gott „gebiert mich als sich und sich als mich“. (Ebd. 109) Eine abgeleitete und rationalistisch verarbeitete Version dieses monologisch sich wieder in sich verschließenden Gedankens ist zuletzt auch die oben erwähnte Identifizierung des göttlichen und menschlichen geistigen Sich-selbst-Schaffens im neuzeitlichen Philosophieren über Gott.
68 „Der Mensch in Gott ist Gott.“ (Die lateinischen Werke, Stuttgart – Berlin 1936 ff., Bd. IV, 28)
69 Meister Eckhart, Göttingen 19143, 318.
Das Stillwerden der philosophischen Theologie bei Nikolaus Cusanus dauert länger und ist komplizierter. Dieser Denker bemüht sich vor allem, nach und nach auf verschiedenen Ebenen die Frage zu beantworten, „was Gott ist“ – aber jeder Versuch einer spekulativen Antwort versagt. Gott als Unendlichkeit und Einheit, Gott als das, über das hinaus nichts größer sein kann, Gott als der „Nicht ein Anderes vom Anderen“, Gott als „das Können selbst“ u. ä. — solcherart bestrebt sich Cusanus die äußersten Grenzen der Rede von Gott zu erreichen. Zuletzt kommt er zur Einsicht, dass jeder Begriff Gott auf die Ebene der Welt herunterbringt, Gott nicht in dem, was er ist, sondern in dem, als was er menschlich gesehen werden kann, erfasst. „Wissen ist Nichtwissen“,70 „Gott ist unaussprechlich“71.
70 De docta ignorantia, 5.
71 Ebd. 54.
In der Neuzeit hat sich dieser sich selbst nichtende Aspekt der Rede von Gott am ausdrücklichsten bei Schelling ausgewirkt. Sein monologisches System mündet zuletzt sogar in die Forderung des Verschwindens oder Absterbens des empirischen, individuellen Subjekts ein, damit die intellektuelle Anschauung des göttlichen Absoluten verwirklicht werden könne. Dieses Stillwerden wird in seiner Radikalität von Schelling mit dem Zustand des Todes verglichen.72 Das Ich verliert sich, um „alles zu gewinnen“.73 Der scheiternde Monolog macht so für Gott den Raum frei; nicht mehr für „Gott (...) in der Idee“,74 sondern für den „Herrn des Seins“, das das „Unvordenkliche“ ist.75
72 Schellings sämtliche Werke, Stuttgart – Augsburg 1856—861, Bd. I, 324—325.
73 Ebd., IX, 217—218.
74 Ebd. 567.
75 Ebd., XIV, 337.
Die reifste Weise des Stillwerdens der monologischen Rede von Gott dürfte zuletzt freilich die sein, die weder in die atheistische Resignation noch in die ekstatische „Vereinigung“ mit Gott, noch in die geistliche Selbstnichtung vor Gott einmündet – sondern eine natürliche und konstruktive Annahme sowohl der menschlichen unveränderlichen Endlichkeit als auch der göttlichen unveränderlichen Unendlichkeit in deren gegenseitigem Verhältnis darstellt. Ein solches Stillwerden kann schon ansatzweise zur Voraussetzung des Dialogs werden. In der älteren Geschichte der philosophischen Theologie ist diese mehr offene Haltung nur sporadisch vorgekommen – ohne eine zusammenhängende Tradition zu schaffen.
Zu dieser Haltung gelangt Augustinus. Nicht einmal seine philosophische Theologie ist dabei (teilweise unter dem Einfluss des Neuplatonismus) der Thematisierung jener „supereminentia divinitatis“ ausgewichen, vor der das Denken und die Rede notwendig versagen;76 somit ist das Erkennen Gottes nur eine „docta ignorantia“ (dieser Terminus stammt ursprünglich von Augustinus), der zuletzt nur ein „ehrfürchtiges Schweigen“ übrig bleibt. Aber die Erfüllung dieses expliziten philosophischen silentium bei Augustinus ist nicht die neuplatonische Verschmelzung der Seele mit Gott oder das eckhartische Finden der ununterscheidbaren Einheit der Seele und Gott. Augustinus erklärt deutlich, dass „die Seele nicht Gott ist“.77 Er erklärt nämlich, dass der Mensch in Beziehung zu Gott nicht aufhört – im Unterschied zu Gott – sich zu verändern, und auch, dass wir Gott nicht so weit kennen können, inwieweit er sich selber kennt. In diesem grundsätzlichen Behalten des Sinnes für das unaussprechliche Anderssein Gottes bei Augustinus (trotz allen Verführungen der mystischen Erlebnisse der „Einheit“, die immer die Gefahr der Ersetzung Gottes durch das tiefste Ich mit sich bringen) konstituiert sich schon andeutungsweise der Anfang des dialogischen Denkens in der philosophischen Theologie.
76 „Wahrer nämlich wird Gott gedacht, als er ausgesagt wird, und wahrer ist er, als er gedacht wird.“ (De Trinitate, VII, 4, 7) „Das Unaussprechliche“ kann nur „auf unaussprechliche Weise gesehen werden“. (Ebd., I, 1, 3.)
77 Contra Fortunatum disputatio, I, 11.
Sein zweiter Keim ist der meritorische Eintritt der praktischen Beziehung zu Gott in den Bereich der methodischen philosophischen Reflexion. Der Anstifter dieses Eintritts, mit dem die philosophische Theologie systematisch ihr theoretisches „Reden von“ in den Kontext des praktischen „Handelns nach“ einsetzt, oder den Primat der ethischen Beziehung zu Gott vor deren ontologischer Thematisierung konstituiert, ist Kant.
Der erste Schritt dieser seiner Gedankenwendung ist die kritische Selbstreflexion der theoretischen Vernunft, die zu ihrem Stillwerden in vielen in der ganzen Tradition des philosophisch-theologischen Monologs laufend zu lösenden Fragen führt. Kant widerlegt (in seiner Kritik der reinen Vernunft) als der erste in der Geschichte der Philosophie die Möglichkeit der philosophisch gültigen Gottesbeweise selbst. Der äußerste Grundsatz ihrer Widerlegung ist die folgerichtig wiederholt gestellte Frage, „was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen“.78 Eine gewisse persönliche Antwort auf diese Frage gibt schon Thomas von Aquin: Nicht lange vor seinem Tod äußerte er sich unter dem Einfluss einer jähen geistlichen Erfahrung über sein Werk wie über „leeres Stroh“. Dieses sein Stillwerden (seit der Zeit hat er nichts mehr geschrieben) ist zwar nicht philosophisch meritorisch – der Autor verlässt damit die Philosophie – aber trotzdem hängt sein durchdringendes Urteil über der ganzen philosophischen Theologie als berechtigter Zweifel und als Herausforderung. Bei Kant sind die methodologischen Mittel der Philosophie so weit reif geworden, dass sie schon mit einer entsprechenden Radikalität die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit der philosophischen Theologie selbst wieder stellen konnte. Die Antwort von Kant lautet: „Nach bloß theoretischen Prinzipien des Vernunftgebrauchs (...) kann (...) niemals der Begriff einer Gottheit (...) herausgebracht werden.“79 Die theoretische Metaphysik bewegt sich „in einem ewigen Zirkel von Zweideutigkeiten und Widersprüchen“.80 Die neue Lösung von Kant, die ihnen entkommen ist, stützt sich auf die moralische Erfahrung der praktischen Vernunft.
78 Werke, Frankfurt a. M. – Darmstadt 1957 ff., Bd. II, 16.
79 Ebd., V, 564.
80 Ebd., II, 392.
Das Bestreben dieses Philosophen, genau analytisch die Grenzen der Leistung der menschlichen Vernunft zu erkennen, ist ein Ausdruck der Achtung gegenüber der eigenberechtigten Wirklichkeit „an sich“ und ein Ausdruck des nicht-thematisierten persönlichen Kontakts mit ihr. Kant sozusagen befreit Gott aus den Fangnetzen der menschlichen Spekulationen: es ist ein Pendant der Befreiung des denkenden Menschen aus dem überwiegenden Strom der monologischen Vorstellungen und Konzeptionen. Zwar triumphierten diese faktisch auch nach Kant in der Synthese von Hegel, aber ihr nachfolgender Kollaps in ihre eigene innere Leere – der Umsturz der totalen („pantheistischen“) Theologie in den totalen Atheismus – ist die vollkommene Bestätigung der von Kant systematisch ausgearbeiteten Behauptung der fruchtlosen Ausgangsentbehrung der spekulativ konzipierten philosophischen Theologie. Nur im Bereich der praktischen Vernunft kann man nach Kant unzweifelhaft zu etwas Unbedingtem oder absolut Gültigem gelangen; dieses ist für Kant das von Gott auferlegte und von ihm mit der zukünftigen Seligkeit verbundene moralische Gesetz. Durch die Leistung von Kant, der die grundsätzliche Vereinbarkeit der Freiheit und der Pflicht oder der von den selbstbezogenen „Neigungen“ befreiten menschlichen Autonomie und der über-empirischen, von Gott bestimmten Heteronomie, deren gemeinsamer Schnittpunkt der ethische kategorische Imperativ wird, erkannt hat, erhebt sich die philosophische Theologie über den anthropozentrischen Horizont des theoretischen Monologs – auf die Schwelle der Möglichkeit der dialogischen Beziehung der praktischen philosophischen Vernunft zur Wirklichkeit Gottes.
Die praktische philosophische Vernunft kann diese Wirklichkeit personalistisch verstehen: als eine mit den Attributen der Vernunft und des Willens begabte, als heilige, selige und weise, als allmächtige, allwissende, allgegenwärtige und höchst gute, als gerechte und als ewige.81 Diese Charakteristiken sind bei Kant nicht eine theoretische Behauptung dessen, was Gott angeblich an sich sei, sondern ein praktisches Erkennen dessen, „was er für uns als moralische Wesen sei“.82 Außer dem Kontext des moralischen Lebens kann man nach Kant Gott nicht wahrhaft erkennen. Gott ist somit ein „notwendiger Begriff“ der praktischen Vernunft, wenn der Mensch seine wahrhaft eigentliche Identität und seine hohe Sendung erfüllen soll: die Ganzheit der Welt erkennen und moralisch handeln. Genau darin ist jedoch eine bestimmte Zweideutigkeit verborgen: Gott als das „Ideal der reinen Vernunft“ oder als ihr „regulatives Prinzip“ kann wieder nur ein monologischer Begriff werden. Aber die Beschreibung der „intelligiblen Welt“ nach Kant als der Welt der freien ethischen Gegenseitigkeit der vernünftigen Wesen, deren „Haupt“ Gott ist, ist im Kern personalistisch und dialogisch gedacht. Dabei kann man gewiss „das Dasein eines höchsten Wesens“ „nur voraussetzen, nicht demonstrieren“.83 Die Sicherheit dieser ethischen Voraussetzung ist dabei – zum Unterschied vom theoretischen Konstrukt – eine implizite Beziehungssicherheit.
81 Z. B. ebd., Bd. IV, 263; Bd. VI, 107; Bd. V, 569—570; Bd. II, 684 und a. a. O.
82 Ebd., IV, 806.
83 Ebd., III, 276.
In diesem ansatzweise dialogischen Sinn denkt auch der junge Fichte Kant zu Ende: Als einem endlichen Wesen ist es mir versagt, zu wissen, „wie du an dir selbst bist. (...) Aber deine Beziehungen und Verhältnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allen Endlichen, liegen offen vor meinem Auge“.84
84 Werke, Leipzig (o. J.), Bd. III, 400—401.
Die potentielle Dialogizität der kantischen Linie der philosophischen Theologie hat sich in der weiteren Tradition des transzendentalen Philosophierens in ihrem Wesen erhalten.85 In der Thematisierung der Liebe zu Gott von Cohen86 wird sie zu einem von den Impulsen der eigentlichen Philosophie des Dialogs, einschließlich ihrer theologischen Komponente.
85 Vgl. z. B. Richard Schaeffler: Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung, Freiburg – München 1995.
86 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Frankfurt a. M. 1929; und a. a. O.
Dialog
Der Begründer der Philosophie des Dialogs Ferdinand Ebner eröffnet ganz neue Möglichkeiten, neben anderen auch der philosophischen Theologie. Die unreflektierte Monologizität der bisherigen philosophischen Tradition begreift er als eine automatische Äußerung der allgemeinen anthropologischen Dispositionen: „Der Mensch erlebt das Weltall in seiner sinnlichen Anschauung als Kugel, deren Mittelpunkt er selber ist. (...) Der geniale Metaphysiker freilich ‚träumt’ in seiner ‚Weltanschauung’, die aber eine geistige, keine sinnliche ist, von dieser Totalität: in der Idee des Kosmos, der in sich geschlossenen Unendlichkeit und Totalität alles Seins, der insgeheim nichts anderes als die ideelle Kugelanschauung zugrunde liegt.“87 Die Absicht von Ebner ist es, diese menschliche und philosophische Totalität dem, was außer ihr ist und in dem und durch das wir wirklich existieren, zu öffnen: der gelebten Beziehung zu „geistlichen Realitäten“ des göttlichen und des menschlichen „Du“. Das Denken, das keine „Antwort auf die Gnade“ ist, sondern nur die Äußerung der „Icheinsamkeit“, entbehrt vor allem der Beziehung zur Wirklichkeit Gottes. Überdies ist nicht einmal das Subjekt solchen Denkens wirklich:88 Das abstrakte Ich der Philosophie ist eine Komponente des bloß menschlichen „Traums vom Geist“. Es ist das „Wort“ allein – mit den christologischen Konnotationen belegt und mit Liebe ausgesprochen89, die ihren Ursprung und ihre Erfüllung in Gott hat – das die Konstitution der personalen Beziehung zwischen dem Ich und dem göttlichen und dem menschlichen Du und in ihr auch die volle Wirklichkeit der Welt bringt. Die monologische Rede, nach Ebner der „zweitausendjährige Idealismus“, dient diesem Wort nicht. Sie petrifiziert die Unwirklichkeit der Projektionen des einsamen denkenden Ich.
87 Schriften, München 1963—65, Bd. I, 214—215.
88 „Das Ich der Philosophie gibt es in Wirklichkeit gar nicht.“ (Ebd. 189)
89 „Das Rechte Wort ist immer eines, das die Liebe spricht.“ (Ebd. 196)
Die Grundlage der dialogischen Philosophie Ebners ist sein folgerichtig personalistischer Zugang. Die Unentbehrlichkeit dieses Ausgangspunktes für den Bereich der philosophischen Theologie und Anthropologie begründet Ebner mit seiner ontologischen Differenz („Seinsunterschied“) zwischen jeglichem Unpersonalen – von dem wir in der grammatischen dritten Person sagen können, dass es „ist“ oder „nicht ist“ – und dem, was sich solcher Rede dank seiner personalen Natur entzieht, die nur in der ersten oder zweiten Person aufgefangen werden kann („ich bin“, „du bist“), in der man sich sinnvoll höchstens nicht ausdrücken, keineswegs jedoch sich verneinend ausdrücken kann (ich bin nicht, du bist nicht). In diesem Sinn würde Ebner auch das aus der späteren ontologischen Differenz Heideggers hervorgehende unpersonale Sein mit seinem Ausdruck „substantiell“ bezeichnen; denn dieses Sein wird von dem „personalen“ Sein, dem Sein der Personen (von Menschen und Gott) transzendiert: Personen verständigen sich anders über sich selbst gegenseitig und anders über alles übrige. „Persönlichkeit und Substanz – das sind zwei Formen menschlicher Seins- und Realitätsauffassung, zwischen denen es keinerlei Vermittlung gibt. Was als Persönlichkeit existiert, kann niemals und in keiner Weise als im Sinn der Substanz existierend wirklich begriffen werden. Wenn wir den Begriff der Substanz zur einzigen Grundlage unserer Realitätsauffassung machen, so ist uns damit auch schon der Weg zur Erfassung dessen, was im Sinn einer Persönlichkeit existiert, unerschließbar versperrt. Zum Sein einer Persönlichkeit können wir kein anderes Verhältnis als ein ‚persönliches’ haben, im letzten Grunde also kein anderes als das Verhältnis des Ich zum Du.“90
90 Ebd. 828—829.
Die von Ebner beschriebene und ausgedrückte personale Bezugnahme übersteigt im Bereich des Philosophierens von Gott den Horizont der behelfenden Sicherheiten sowohl der Welt als auch des monologisch denkenden Ich (deren Sein man philosophisch ebenso behaupten als auch bezweifeln kann) und wendet sich direkt zu Gott, dessen dem Menschen zugewandtes Wort „Du bist“, das nur in einer personalen Beziehung vernommen werden kann, den Menschen aus der Ausweglosigkeit der metaphysischen Überlegungen, ob „Gott ist“ oder „Gott nicht ist“, zu seiner lebendigen und Leben schenkenden Wirklichkeit erhebt, die man in der Beziehung zu ihm weder bestreiten noch auf eine unpersonale Behauptung reduzieren kann. Die solcherweise grundgelegte philosophische Theologie gelangt zur einzigen philosophischen und allgemein menschlichen Sicherheit, die man von Gott haben kann: zur Sicherheit, die er selber von sich selbst dem Menschen gibt.
Diese grundlegende Konzeption wird von Ebner unsystematisch in einer Reihe von Aspekten entfaltet und durchgearbeitet.
Die in der Philosophie gewöhnlich spekulativ thematisierte Beziehung Gottes zur Ganzheit der Welt wird auf dem Boden der dialogischen Philosophie Ebners mit der unmittelbaren Evidenz der Beziehung Gottes zu menschlichen Personen konfrontiert, und es scheint, dass die Welt erst im Licht der Beziehung Gottes und des Menschen beginnt, in ihrer tieferen Wahrheit zu erscheinen. Zugleich hört sie auf, dem Menschen „den Ausblick auf Gott zu verstellen“.91 Die philosophische Vorstellung des schaffenden Gottes als eines „unendlich geschickten Mechanikers“ enthüllt in diesem Kontext ihre Begrenztheit,92 genauso wie die philosophischen „Beweise“ der Existenz Gottes – in denen man nicht die „Realität Gottes treffen“ kann.93 Jedwedes logische Deduzieren der göttlichen Existenz bedeutet für Ebner nur ein Symptom der Einsamkeit des Ich, das sein absolutes „wahres Du“ noch nicht entdeckt hat.94 „Alle Beweise, dass Gott ‚ist’, (...) ignorieren Gottes Gegenwart. (...) Die Theologie mit ihren Gottesbeweisen will gewissermaßen das Dasein Gottes aus der Vernunft des Menschen herauspressen.“95 In der Aktualität der Beziehung braucht nach Ebner weder Gott noch Mensch einen Beweis. Der außerhalb der Beziehung – spekulativ, unpersonal – gedachte Gott ist irgendeine Analogie der reinen Natur, nichts mehr als sie. Vom Gesichtspunkt des personalen Mitteilens aus sind auch solche Ausdrücke wie „ens realissimum“ oder „actus purus“ ehrfurchtlose abstrakte Anthropomorphismen.96
91 Ebd. 797.
92 Ebd., II, 13.
93 Ebd., I, 827.
94 Ebd. 98.
95 Ebd. 833—834.
96 Ebd. 837.
Das monologische Philosophieren von Gott fasst Ebner insgesamt nur als einen „Traum vom Geist“, nicht als ein wahres geistliches Leben auf. Zugleich setzt er jedoch mit Hoffnung voraus, dass „es vielleicht sogar keinen gibt, der nicht doch im zutiefst versteckten (...) Winkel seines Herzens auf die Gnade Gottes vertraute.“97 Die Beziehung zu Gott ist nach Ebner für den Menschen als Menschen am ursprünglichsten konstitutiv, während die Isolation von Gott, von dem anthropomorphen „Wissen von Gott“ begleitet, ein Zustand des menschlichen Verfalls ist.
97 Ebd. 100.
Eine Art „Brücke“ der Beziehung des Ich zum Göttlichen, aber auch zum menschlichen Du ist in der Philosophie von Ebner das „Wort“ – das mit Christus, mit der göttlichen Liebe, mit der göttlichen schöpferischen Tat, mit dem Prinzip des menschlichen geistlichen Lebens, mit der echten Beziehungssendung der menschlichen Sprache identisch ist. Die Grundbedeutung des „Wortes“ ist bei Ebner der dialogisch (nicht neuplatonistisch) interpretierte „Logos“ vom Prolog des Evangeliums nach Johannes: „Man muss den Logos beim Wort nehmen, beim Sinn des Wortes überhaupt. Im Anfang war das ‚Verhältnis des Ich zum Du’ und das Verhältnis war bei Gott und Gott war das ‚Verhältnis des Ich zum Du’.“98 Damit ist auch die tiefste Bedeutung des menschlichen Wortes gegeben: „Das Wort des Menschen geht hervor aus seinem Verstummen vor Gott und aus der Fülle seines Lebens in Gott. Diese Fülle des Lebens ist die Liebe. (... Liebe) ist – wie das Wort – die Realisierung des Verhältnisses zum Du, des Verhältnisses zum Menschen und zu Gott. – Es gibt im Menschen ein Schweigen, das wahrlich ‚Schweigen im Wort’ ist. Und dieses Schweigen ist inbrünstiges Gebet. Jedes wahre Wort des Menschen in seiner Sprachlichkeit – und vor allem das Wort des wahren Dichters – ist diesem Schweigen entsprungen und lebt von ihm.“99 Das Wort in dieser Auffassung kann selbstverständlich kein immanentes Werkzeug des menschlichen Denkens sein, sondern es ist umgekehrt sein transzendenter Maßstab: „Die Vernunft, die das Wort, ihre Herkunft also, verleugnet, ist nicht Licht, sondern Finsternis des Lebens.“100 Die Sprache, in der man sich wahrhaft verständigen kann, lebt also nur auf dem Boden der liebevollen, in Gott begründeten Beziehung: „Aus dem Wort wird die Sprache geboren und wiedergeboren.“101 Und komplementär lebt dieses Wort, das von Gott herkommt, nur in der „geistlichen Atmosphäre“ der personalen Bezugnahme, in der sich der Mensch seiner Geschaffenheit durch das Wort bewusst wird: „Ich bin und durch mich bist du.“102
98 Ebd. 963.
99 Ebd. 952.
100 Ebd. 953.
101 Ebd. 955.
102 Ebd. 96.
Das geistige Leben des Menschen ist also real nur im Wort und durch das Wort – außerhalb der personalen Bezugnahme vergeht es, degeneriert in eine bloße Phantasie, „Komödie“, „Hysterie“, Spekulation. In ihnen wendet sich das Ich von seinem göttlichen und menschlichen Du ab und konzipiert sein Universum ohne sie, mit bloßen Vorstellungen und Ideen. Gerade Jesus Christus ist es, der kommt (nach dem Philosophen Ebner), diese Verschlossenheit in Philosophie, Kultur und Erleben zu durchbrechen: Er ist das Wort, das zwischen Mensch und Gott wiederholt persönlich vermittelt: das „den Glauben fordert und die Liebe gebietet“ und dadurch die „chinesische Mauer“ der „Icheinsamkeit“, in der der Mensch in den „Abgrund des Nichts“ verfällt, zerstört.103 Der dialogische Personalismus Ebners erschließt so der Philosophie die mutige Möglichkeit, fürderhin nicht schon an der Schwelle der christlichen Offenbarung stehen zu bleiben, sondern mit adäquatem Feingefühl direkt ins Herz der christlichen Botschaft einzutreten. Was der bisherigen philosophischen Theologie notwendig als das der „Vernunft“ schon ganz Unzugängliche erschien, hat sich dem personalistischen Zugang nur für eine undialogisch begrenzte Vernunft als unzugänglich ausgewiesen. Die personale göttliche Bezugnahme kann man nicht deswegen „philosophisch nicht denken“, weil es der Philosophie grundsätzlich und für immer an methodologischen Mitteln mangelte, sondern man kann sie nur unter jener historisch konkreten Bedingung nicht denken, dass die Philosophie selbst dieser Bezugnahme gegenüber verschlossen bleibt.
103 Ebd. 237.
Ebner erfüllt mit seinem Verfahren – gleichsam wider die gesamte bisherige Philosophie – die Identität der Philosophie als der Denkweise, die sich frei und ohne Willkür dem absoluten Horizont von allem, was ist, eröffnet. Solches Fragen übersteigt den Bereich des „substantiellen“ Seins und gelangt zum Erfassen der „geistlichen Realität“, die dem unpersonalen Sein gegenüber absolut transzendent ist. Diese von Ebner sondierte Realität ist die Fülle des konkreten Geschehens der göttlichen und menschlichen personalen Bezugnahme, für welche die Person Jesu Christi eine philosophisch relevante konstitutive Bedeutung hat.
Das Werk Ebners erweist also, dass die philosophische Theologie grundsätzlich fähig ist, auch auf der Ebene der personalen Beziehung zu arbeiten: Gott philosophisch als den Partner zu thematisieren, von dem man ohne ihn nicht sinnvoll reden kann. Gott als das bloße Objekt der Spekulation ist beinahe willkürlich definierbar, problematisierbar, negierbar – er ist unreal;104 nicht so der in der Ich-Du-Beziehung entdeckte Gott. Denn er selbst spricht in dieser Beziehung: Nichtanonym bringt er dem Menschen den philosophisch erfassbaren Glauben an das Leben, die Ethik, den Sinn für die Zeit, die Fülle der Liebe. „Gott aber thront nicht in einer dem Menschen unerreichbaren metaphysischen Ferne. Er, der nicht der Gott der Toten, sondern der Lebendigen ist, ist uns im Leben nahe. (...) Das ist die Forderung des Christentums: dass der Mensch sein Verhältnis zum andern Menschen auf sein Gottesverhältnis gründe und dieses in jenem zum Ausdruck bringe. Erst in der Erfüllung des göttlichen Gebots der Liebe findet er das wahre Du seines wahren Ichs.“105 „Du bist und durch Dich bin ich. (...) Der Mensch begreift seine Existenz als Gnade.“106
104 Ebd. 261—263.
105 Ebd. 268—269.
106 Ebd. 483.
In der personalen Beziehung, die für das Selbstbewusstsein des Menschen als des geistigen Wesens konstitutiv ist, kann man also Gott erkennen: nicht bloß als eine „Projektion des Ich“, sondern als den, der das menschliche Ich selbst wirklich macht und seine Menschlichkeit stützt; Gott nicht als einen abstrakten Hintergrund der Welt, sondern als den, mit dem man die Welt verstehen kann; nicht als eine von dem kollektiven Konsensus hervorgegangene Idee, sondern als den, der die Möglichkeit jeweiligen wahren Erkennens und jeder vertrauensvollen Kommunikation begründet; nicht als den begrifflichen Schlussstein dieser oder jener metaphysischen Konstruktion, sondern als den, der als der höchste Maßstab alles Sinnvollen dem Menschen vor allem die konkrete personale Liebe auferlegt.
Eine reale Beziehung unterscheidet sich vom bloßen „Träumen“ von ihr durch ihren ethischen Charakter: durch die Fähigkeit, „die Unendlichkeit der absoluten ethischen Forderung“107 zu akzeptieren; dabei: „Zum Ethos aber gehört die Gnade“,108 welche „über der Gerechtigkeit des Himmels“109 steht. Ebner konstatiert kantianisch: „Allein das Ethische ist es, was den Menschen eine Position in seinem Verhältnis zu Gott (...) einnehmen lässt.“110 Die Beziehung zu Gott wird so auch durch die Beziehung zu den Menschen wieder konstituiert: „Das Du im ‚Nächsten’ (...) ist das Medium, durch das das göttliche Du dem Ich im Menschen entgegenleuchtet.“111 „Wenn wir einen Menschen wirklich lieben – nicht bloß in ihm den Freund, in dem wir ja immer nur uns selbst lieben (...) – dann lieben wir Gott in ihm.“112
107 Ebd., II, 26.
108 Ebd. 45.
109 Ebd. 55.
110 Ebd. 39.
111 Ebd., I, 858.
112 Ebd. 271—272.
Vor allem aber „Im Gebet kann die Realität Gottes wahrgenommen werden“.113 Der junge Ebner behauptet sogar, dass „das Wort Gott nur im Gebet ausgesprochen werden darf“.114 Das Gebet führt den Menschen auch durch die Welt zur Beziehung zu Gott; sodann erfahren wir die Erschaffung der Welt nicht als ein vergangenes Ereignis, sondern als „Gegenwart, weil Gott wesentlich in der Gegenwart ist. Wir ahnen diese Wahrheit in unserem tiefsten Erleben der Schönheit in der Natur, in jenen stillen Stunden, in denen beim Anblick von Wiese und Wald, Gras und Blumen, Himmel und Wolken unser Geist zur Ruhe kommt und schweigt.“115 Aber gerade in Situationen, wenn Gott uns am nächsten ist, nehmen wir am stärksten seine absolute Transzendenz wahr.116
113 Ebd., II, 300.
114 Ebd. 31.
115 Ebd., I, 913.
116 Ebd. 915.
In ihr ist Gott jenem menschlichen Ich unzugänglich, das von der ursprünglichen, für menschliches Ich konstitutiven Beziehung zu Gott in den kulturhistorischen Zustand der „Icheinsamkeit“ abgestürzt ist; dieser Zustand ist nach Ebner ein Zustand der Sünde, weil dieses Ich – trotz der andauernden göttlichen Nähe im menschlichen Leben – immer etwas tut, um diese Nähe nicht zu spüren.117 Wenn es an Gott denkt, ist „Gott“ nur eine Projektion seines Geistes, wodurch das Ich automatisch Gottes Stelle einnimmt, weil es sich – in diesem Zustand – seiner Geschaffenheit nicht bewusst ist und seine Einsamkeit nicht als Mangel verspürt. Ebner konstatiert, dass der Zustand dieses Traums ein „geistiger Tod des Menschen“ sein müsste,118 wenn er nicht ein bloßes Selbststilisieren im Raum des metaphysischen Denkens wäre. Nicht einmal das ethische Ich, wenn es sich auf diese Weise stilisiert, spricht vom Du anders als nur für sich selbst; das „Du“ ist wieder nur seine Projektion. Aber auch das Ich selbst wird so nur eine „Idee des Ich“ – ein unechtes Ich, weil es die Beziehung zum wahren Du entbehrt.
117 Ebd., II, 61.
118 Ebd., I, 193.
Die Analysen des irrigen Gottsuchens in der Form des „Traums vom Geist“ sind der Kern der ebnerischen Interpretation, nicht nur der bisherigen Philosophie, sondern der ganzen menschlichen Kultur: „Alle Kultur, in den vielgestaltigen Formen ihres In-die-Erscheinung-Tretens, die tiefsinnigen Mythologien alter und ältester Völker, die großen Werke der Künstler, der Dichter, der Philosophen, die uralten Lebenslehren westlicher und östlicher Weisheit – das alles ist auf nichts anderem aufgebaut als auf jenem Traum vom Geiste, den der Mensch in der Icheinsamkeit seines von Gott abgefallenen, von der Realität Gottes abgewendeten Lebens träumt, und die Erkenntnis dieser Icheinsamkeit am Grunde dieses Traums ist der einzige Schlüssel zur Kulturgeschichte und Kulturpsychologie.“119
119 Ebd. 825.
Gerade in seiner Einsamkeit kann das Ich jegliches „in der dritten Person“ behaupten und bezweifeln. Es verliert so die Sicherheit von der Wirklichkeit und von sich selbst. Gegen diese Willkür des von der Wirklichkeit losgerissenen Denkens stellt Ebner die Frage der Begründung des Beziehungsglaubens: „Der Glaube aber, wie er in den Beziehungen und Verhältnissen der Menschen untereinander eine Rolle spielt, z. B. der Glaube der Liebenden an ihre gegenseitige Liebe, von Freunden an ihre gegenseitige Freundschaft, muss im letzten und tiefsten Grunde seines Wesens, soll er nicht in seiner ‚Kernlosigkeit’ in Nichts zusammenbrechen, gewissermaßen ein Reflex des Glaubens ans Göttliche in menschliche Verhältnisse und Beziehungen hinein sein.“ 120
120 Ebd., II, 23.
Das realistische „Denken an Gott“ ist nach Ebner immer ein „Denken zu Gott hin“.121 Der Glaube, der an dieses Denken anknüpft, ist „Stillestehen des Denkens, Ruhen der Gedanken in Gott. (...) Das Warum verstumme, wenn Gott zum Menschen spricht. (...) Sein Wort aber ist wahrlich nicht die Antwort auf spekulative Fragen der Metaphysik nach dem letzten Grund der Dinge“.122 Denn Gott ist nicht die Idee Gottes. Gegen die Hybris des verträumten philosophischen Monologs stellt Ebner nüchtern fest: „Wir brauchen bis in die letzten Wurzeln unsrer Existenz hinab eine geistige Hilfe, die uns von nirgends anders her kommen kann als von Gott.“123
121 Ebd. 28.
122 Ebd., I, 156.
123 Ebd., II, 52.
Die philosophische Christologie Ebners ist de facto eine Beschreibung dieser Hilfe. Aber auch über Jesus kann man nach Ebner „träumen“ – und zwar dann, wenn wir von seiner Gottheit absehen.124 Die wirkliche Beziehung zu ihm ist der Glaube an die Gnade, dass in ihm uns das göttliche Du entgegenkommt.125 Diese unsere Beziehung ist eine Entscheidung auf Leben und Tod; dem gegenüber sind jegliche kulturelle Vorstellungen von Jesus eine leere Selbsttäuschung. „Vor dem Wort Gottes verstummt das Wort des Dichters, das die Schönheit zur Sprache und die Sprache zur Schönheit gebracht hat. Die Menschheit freilich hängt an ihrem Traum vom Geiste. Sie will von ihren ‚Idealen’ nicht lassen, auch wenn sie längst von ihnen verlassen ist. Sie wollte auch durch Christus nicht erwachen, und so träumte sie denn den Traum ‚christlich’ weiter. Da gab es auf einmal eine ‚christliche’ Schönheit, eine ‚christliche’ Kunst und Dichtung und sogar Philosophie. Aus diesem Christentum freilich, wenn man das noch Christentum heißen mag, musste eines Tages aller Ernst des geistigen Lebens geschwunden sein.126 Ebner beschreibt die Kultur, die sich von der christozentrischen personalen Bezugnahme gelöst hat, als ein „stilisiertes Sterben“, das nicht einmal den Ernst des Todes begreift.127 Das wahre Christentum, das „den Tod überwindet“, steht nach Ebner über der Relativität aller Kulturen, es lässt sich von keiner von ihnen vereinnahmen. Christsein bedeutet „innerlich herausspringen aus allen Relativitäten des Lebens“, in die „absolute Beziehung“ zu Gott eintreten und „mit immerwährendem wachen Bewusstsein der geistigen Bedeutung des Lebens existieren“.128
124 Ebd., I, 304.
125 Ebd. 313—314.
126 Ebd. 328.
127 Ebd. 329.
128 Ebd. 329—330.
Ebner stellt damit die grundsätzliche Frage, ob die westliche Kultur gerade an dieser verfälschenden Stilisierung des Christentums nicht zugrunde gehen werde. Gehen die nihilistische Variante der Lösung der Krisenprobleme der westlichen Zivilisation, die Nietzsche paradigmatisch vorgelegt hat und die den Boden des Träumens des einsamen Ich nicht verlässt, findet Ebner den Ausgang in der wachen Einsicht, dass „das Christentum keine Idee ist“.129 Das reale und realistische geistige Leben konstituiert sich nach ihm mittels des Dialogs zwischen Gott und Mensch. Dieser Dialog ist gewiss nicht bloß eine Bewegung der Ideen im Raum des kulturellen Allgemeinen, sondern eine unmittelbare personale Gegenseitigkeit. Das Wort Jesu kann man nach Ebner weder dichterisch noch philosophisch auslegen. Es ist „das persönlichste Wort, das jemals in der Welt gesprochen wurde“.130 Es wendet sich unmittelbar an das konkrete Ich und fordert zur Gegenseitigkeit, nicht zu monologischen Interpretationen auf. Die Verschlossenheit gegenüber der Möglichkeit des Dialogs, das Nicht-Annehmen der „Gnade des Wortes“, ist für Ebner eine menschliche Selbstdestruktion; bringt sich der Mensch um die Beziehung zu Gott, so bringt er sich zugleich um seine Menschlichkeit. Sogar die Mystik, begriffen als das Suchen Gottes in den Tiefen der menschlichen Seele und als die Selbstvergöttlichung des Menschen, der seine Einsamkeit durch eigene Identifikation mit dem Absoluten kompensiert,131 ist nach Ebner der Verlust des Wichtigsten: der Ehrfurcht und Demut vor Gott – der Bedingungen der menschlichen und vermenschlichenden Beziehung zu ihm.132 Die Ethik dieser Beziehung – Ethik des wirklichen geistlichen Lebens – ist in der unentbehrlichen Selbsthingabe an die absolute Übermacht der göttlichen Gnade grundgelegt. Zu dieser Haltung kann dem Menschen weder die metaphysische Idee noch das mystische Erlebnis helfen, die nur als eine „Projektion des Ich“ entstanden sind.133 In der impliziten Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der authentischen christlichen Mystik (hauptsächlich von Johannes vom Kreuz) tut Ebner philosophisch dar, dass der Mensch sich mit den mystischen „Gefühlen“ nur in sich selbst verstrickt; die grundlegende menschliche Offenheit zur dialogischen Beziehung mit Gott ist eine „Willenssache“.134 „Glaube, könnte man auch sagen, ist die ‚persönliche Entscheidung’ für das Du.“135
129 Ebd. 333.
130 Ebd. 339.
131 Ebd., II, 48.
132 Ebd. 39.
133 Ebd., I, 103.
134 Ebd., II, 16.
135 Ebd., I, 234.
Dasjenige, was die beziehungslose mystische Verschlossenheit in die „Chinesischen Mauern“ des verabsolutierten Ich enthüllt und verlässlich kennzeichnet, ist die Abwesenheit des Sinnes für das ethische Leben und der Missbrauch des Wortes „Gnade“.136 Den Beziehungsglauben – zu dem untrennbar die Liebe gehört – kann man durch eine selbstbezogene mystische Intuition nicht ersetzen.137 Zu dem dialogischen Glauben gehört der „Realismus des Geistes“:138 das Bewusstsein der Abhängigkeit von (außerhalb des Menschen existierendem) Gott, dessen dauernde Anwesenheit man nicht anders als in der Beziehung Ich-Du erfahren kann. Erst diese Beziehung „vermittelt uns“ auch realistisch „die Wirklichkeit dieser Welt“. „Je mehr sich das Ich in der natürlichen Icheinsamkeit der menschlichen Existenz vor dem Du verschließt, desto mehr ‚entwirklicht’ es die Welt zu seiner ‚Projektion’; (...) desto mehr aber auch ‚entwirklicht’ es sich selbst, sich dessen jedoch nicht bewusst werdend.“139 Es ist ein Zustand, in dem dasjenige, was im Menschen geistlich ist, nicht leben, aber auch nicht sterben kann.140 Das Nicht-Anerkennen der absoluten Priorität der personalen Beziehung zu Gott führt dazu, dass das menschliche Leben „eine Komödie mit dem Göttlichen vor den Menschen und mit den Menschen vor Gott“141 oder „Heidentum und Hysterie“142 wird. Dagegen ist das realistische Erkennen der eigenen trostlosen Situation und die Erfahrung der Gnade ein Zeichen, dass der Mensch sich wahrhaft der Wirklichkeit Gottes bewusst ist.143
136 Ebd., II, 20—21.
137 Ebd. 51.
138 Ebner ihn – aufgrund all seiner philosophischen Untersuchungen – unter den Religionen nur dem Christentum zubilligt: Nur das Christentum hat das Recht, nicht nur vom „Göttlichen“, sondern wirklich von Gott zu reden. (Ebd. 30—31)
139 Ebd., I, 240.
140 Ebd.
141 Ebd., II, 34.
142 Ebd. 36.
143 Ebd. 60.
Die Analysen der verschiedensten Aspekte der verwirklichten oder nicht-verwirklichten Beziehung zwischen Gott und Mensch, mit denen Ebner auf neue philosophische Wege gerät, haben freilich ihre Bedeutung nicht nur für das Bewerten dieses oder jenes Zustandes und Entwicklungsprozesses des menschlichen Geistes, sondern speziell für das Zustandekommen von neuen schöpferischen Perspektiven der philosophischen Theologie.
Das Erkennen Gottes geht bei Ebner aus eigener persönlicher Beziehung hervor; es ist nicht durch das Erkennen der Welt oder das Selbsterkennen vermittelbar: Im Gegenteil, die Welt und das Ich erschließen sich uns in dem, was sie wahrhaft sind, erst durch die Beziehung zu Gott.144 Die Erfüllung dieser Beziehung ist der Dialog; in ihm ist Gott das Ziel der geistigen Bewegung unseres Ich.
144 Damit hängt die Frage Ebners zusammen, ob die Welt ohne den Menschen geschaffen worden wäre. (Ebd. 26)
Was teilt Gott in diesem Dialog von sich mit? Nach der Verdolmetschung Ebners: er ist die Person („das absolute Du“), die (schöpferische und heilbringende) Liebe, die Quelle der Gnade, der Geber der ethischen Ordnung. Diese philosophischen Erkenntnisse Ebners haben ihre Pionierbedeutung: Sie wurden nicht durch eine Deduktion aus dem Begriff Gottes oder aus der Empirie der Welt, sondern aus dem persönlichen Dialog des Philosophen mit dem „Thema“ seiner Philosophie gewonnen.
Der philosophische Kontakt Ebners mit der christlichen Offenbarung (mit dem Wort des lebendigen Gottes) bedeutet eine wesentliche Störung der klassischen Bedeutung des Terminus „Gott der Philosophen“. Im dialogischen Kontext verliert sein Gebrauch offensichtlich seinen Sinn.
Der Dialog wird also für die Philosophie ein Weg zum philosophisch kontaktierbaren, zugleich aber nicht vereinnahmbaren Gott – Gott, der in der Ausdrucksweise der Philosophie selbst zu Wort kommt und der dadurch die philosophische Theologie sozusagen theomorphisiert. Darum sagt Ebner (schon im Jahr 1911): „Wir Menschen sollen gar nicht Gott sagen; denn der Ausdruck Gott ist an und für sich schon eine Vermenschlichung Gottes.“145 Führt also ein Philosoph den Dialog mit Gott, so ist Gott nicht ein uneigenberechtigter Gegenstand seines Erkennens, sondern ein ihn unendlich überragender Partner, der in das persönliche Sein des Philosophen eingreift und es beeinflusst und so sich ihm selber zu erkennen gibt, in dem Maße, in dem der Philosoph fähig ist, diesen Kontakt persönlich und philosophisch zu akzeptieren.
145 Ebd. 11.
In diesem Kontakt enthüllt er, wer Gott ist, auch dadurch, wie er sich selbst in der Beziehung zu ihm innerlich verändert. „Das Göttliche impliziert ein lebendiges, schöpferisches Geschehen (...) im Individuum.“146 Zum „Objekt“ des menschlichen Erkennens von Gott wird da paradoxerweise der erkennende Mensch selbst, erschaffen und weiter geschaffen durch sein absolutes Du: Unsere „Person, (die...) nicht anders als im Verhältnis zum Du existiert“147; „der Mensch versteht sich selbst nur in seinem Verhältnis zu Gott“148; „im Verhältnis zum Du, wird das Ich, was es sein soll“.149 „Im ‚Gottesverhältnis’ konkretisiert und realisiert sich das Selbstbewusstsein eines Menschen, in ihm erst kommt die menschliche Persönlichkeit ganz zum Durchbruch und das Ich zu seinem vollen Leben, das ein Leben des Geistes ist. (...) ‚Du bist und durch Dich bin ich.’“150
146 Ebd. 19.
147 Ebd., I, 835.
148 Ebd., II, 58.
149 Ebd., I, 265.
150 Ebd. 108.
Gott nicht als eine Projektion des Ich, sondern als das authentische Gegenüber des Erkennens ist majestätisch und kann nicht untertan gemacht worden; er selbst diktiert dem Menschen die Nachricht von sich. Eine etwaige menschliche Abdikation von diesem anspruchsvollen, in einem gewissen Sinn umgekehrten noetischen Verhältnis wäre eine neue Rückkehr zum Monolog, in dem wir zwar jenen untergebenen „Gott“ irgendwie theoretisch behandeln können, dieser würde jedoch nur in unseren Begriffen und Vorstellungen leben. Gott, lebendig außerhalb des menschlichen Denkens und Erlebens, bewirkt umgekehrt das „Hinauswachsen der Innerlichkeit über sich selbst“.151 Das dürfte sicher nicht angenehm sein: „Das Geheimnis der göttlichen Liebe ist, dass Gott den Menschen durch Leiden zu sich emporzieht.“152 Jedoch das Kriterium des Dialogs mit Gott – zum Unterschied vom Träumen über die Idee Gottes – ist gerade das Erlebnis dieses und weiterer ähnlicher Paradoxe. „Der Mensch muss sich seines unendlichen Gottferneseins bewusst werden, um Gott nahe zu sein.“153
151 Ebd., II, 22.
152 Ebd. 60.
153 Ebd. 33.
Die wahrhaft eigentliche Äußerung der dialogischen Nähe zu Gott ist nach Ebner das Gebet. Im wahren Sinn ist Gott für den Menschen Gott nur im Gebet: „Der Mensch kann von Gott eigentlich gar nicht in der dritten Person reden, obwohl Theologen und Metaphysiker dies tun. Er kann von Gott aber auch nicht zu dritten Personen sprechen. (...) Man denkt an Gott immer in der zweiten Person.“154 „Die Existenz Gottes kann nur in einem Satze der zweiten Person behauptet werden. Im letzten Grunde nur im Gebet.“155 Ist jedoch auf diesem Grund eine Philosophie als ein System von grammatisch unpersönlich machenden Aussagen (mit Ausnahme der Bekenntnisse von Augustinus und der einzelnen Passagen z. B. bei Fichte) möglich? „Wer von Gott redet – und wenn es auch in Ehrfurcht geschieht – hat in dem Augenblick, wo er dies tut, kein persönliches Verhältnis zu Gott. Er übersieht die Gegenwart Gottes, er redet an Gott vorbei, der gegenwärtig ist und zuhört – und ist das aber nicht ehrfurchtslos? Der Mensch, der kein persönliches Verhältnis zu Gott hat, büßt dabei seine eigene Persönlichkeit ein, er wird zur Sache in der Hand Gottes und Gott zur Sache in seinem Denken. Was heißt das: den Namen Gottes heiligen? Nicht von Gott reden, sondern immer zu ihm. Wer von Gott redet, entheiligt den Namen Gottes.“156 Ebner hat in dieser empfindlichen Frage persönlich klar entschieden; es geht um die grundsätzliche ontologische und ethische Haltung – die jedoch einen Abgrund zwischen der persönlichen Beziehung zu Gott und der unpersönlichen Rede der Philosophie aufreißt.157
154 Ebd. 27.
155 Ebd. 33.
156 Ebd. 47.
157 Ebd. 48.
Auf der theoretischen Ebene lässt Ebner diesen Streit ohne eine definitive Lösung. Aber die Tatsache, dass dieser Philosoph, der in der Beziehung zu Gott schon so scharf die Ungebührlichkeit der bloß grammatischen Objektivation spürt, trotzdem selbst in der Praxis seines Philosophierens doch von Gott spricht, zeigt hinlänglich, dass er selbst keine bessere Lösung gefunden hat. Es ist offenbar notwendig, sie anzunehmen – mit Demut, mit Bewusstsein der genuinen Ungenügsamkeit der menschlichen Dispositionen. Es ist offensichtlich, dass jegliche philosophische Theologie nicht nur in dieser formalen Hinsicht, sondern in der ganzen Reihe weiterer Grundaspekte, im Bezug zu ihrem Gegenüber nur ein sehr unvollkommenes Mittel seiner Äußerung sein kann. Die von Ebner gegründete dialogische Philosophie, die in dieser Hinsicht gewisse Grundvorteile hat, ist gerade deswegen fähig, sich dessen etwas besser bewusst zu werden als die Weisen des philosophischen und theologischen Denkens, die Gott de facto ohne Gott thematisieren. Die grundsätzliche Basis der dialogischen philosophischen Theologie ist das lebendige Bewusstsein der personalen Beziehung. Dieses Bewusstsein kann die noch so ungenügenden Ausdrucksweisen latent begleiten und ihnen den größten menschlich erreichbaren Sinn verleihen. Es dürfte auch ein gewisser Vorteil sein, dass die philosophische Rede nicht von sich selbst aus auf die Beziehung hinweist; solcher Automatismus könnte leicht bloß eine entleerte Fiktion werden – ähnlich wie sogar die direkte Rede in der zweiten Person selbst eine Fiktion wird, wenn die Worte eines Gebetes von einem Menschen vorgetragen werden, der seiner Beziehungsdimension innerlich verschlossen ist. Andererseits – wie auch Ebner feststellt – dürfte die Rede in der dritten Person für einige Persönlichkeiten nicht notwendig ein großes Hindernis sein: „Freilich gibt es seltene Menschen, denen die Kraft des Geistes in ihrem Wort gegeben ist, dass sie, von Gott redend, ihn in seiner geistigen Realität unmittelbar dem ‚Angesprochenen’ gegenwärtig machen. Das aber werden immer nur die von Gott selbst dazu Berufenen sein.“158
158 Ebd., I, 259.
Zur Unterscheidung dessen, dass in solcher Rede wahrhaft Gott und nicht – subjektivistisch – nur eine Schöpfung des menschlichen „Traums vom Geist“ vergegenwärtigt wird, hat Ebner wichtige Kriterien mit seinen schon erwähnten Beschreibungen der typischen Merkmale der Pseudospiritualität des „einsamen Ich“ entwickelt. Sein personalistischer Zugang zur Wirklichkeit Gottes hat auch gegen die deformierende Willkür des Individualismus seine Gegenmittel: Er bemerkt, dass in der authentischen Beziehung zu Gott ein Gebet, das das Bewusstsein der solidarischen Mitmenschlichkeit nicht enthielte, nicht bestehen kann. „Obwohl der Mensch gerade in seinem Gottesverhältnis als der ‚Einzelne’ vor Gott steht, so kann er doch nicht beten, ohne nicht in der geistigen Gemeinschaft mit allen Menschen zu beten. Denn so und nicht anders hat es uns Jesus gelehrt im Vaterunser. (...) Nicht für sich allein betet und spricht der Mensch zu Gott, sondern für alle Menschen. Das kann aber nur, wenn in ihm die wahre Liebe ist.“159
159 Ebd. 273.
Die von Ebner aus der reflektierten dialogischen Beziehung zu Gott gewonnenen Erkenntnisse sind Grundsteine der weiteren Forschung in dieser Richtung. Seine allseitige Diagnose des Anthropomorphismus der „Idee Gottes“ – als des substanzialistisch und distanziert thematisierten – als bloßen Bildes, das das göttliche persönliche Sein verdeckt und ein Ausdruck der Unterbrechung der menschlichen Beziehung zu ihm ist – bildet einen Kontrasthintergrund für die anknüpfende positive (nicht mehr nur still werdende) Äußerung des wirklichen, lebendigen, kommunizierenden Gottes als des „jenseits aller Vorstellbarkeit stehenden Du“,160 das aber zugleich sich selbst und sein Wort dem menschlichen Ich in der personalen Beziehung liebevoll schenkt.
160 Ebd. 282.
* * *
Dieses Vorhaben der dialogischen Wahrnehmung – die in die philosophische Erfahrung einmündet, welche ihrerseits die biblische Offenbarung bestätigt – ist auch der philosophischen Theologie von Franz Rosenzweig eigen. Seine Weise des Gotterkennens beginnt dort, wo die monologisch konzipierte philosophische Theologie endet, wo sie still wird (ohne ihre thematische Orientierung zu verlieren): „Von Gott wissen wir nichts. Aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott. Als solches ist es der Anfang unsres Wissens von ihm. Der Anfang, nicht das Ende. Das Nichtwissen als Ende und Ergebnis unsres Wissens ist der Grundgedanke der ‚negativen Theologie’ gewesen, welche die vorgefundenen Behauptungen über Gottes ‚Eigenschaften’ zersetzte und abtat, bis das Nicht aller dieser Eigenschaften als Gottes Wesen übrig blieb, Gott also bestimmbar wurde nur in seiner völligen Unbestimmbarkeit. Diesen Weg, der von einem vorgefundenen Etwas zum Nichts führt und an dessen Ende sich Atheismus und Mystik die Hand reichen können, beschreiten wir nicht, sondern den entgegengesetzten vom Nichts zum Etwas.“161
161 Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Haag 1976—79, Dordrecht – Boston – Lancaster 1983—84, Bd. II, 25.
Der positive Weg Rosenzweigs zu Gott verläuft in einem engen Zusammenhang mit seinem ähnlich konzipierten Weg zur Welt und zum Menschen. Denn auch die Welt und den Menschen sucht Rosenzweig nicht durch die philosophische Begrifflichkeit – die begrenzend und mit Negativität belastet ist, weil sie alles dialektisch (eines gegen das andere) in ein gedachtes Ganzes einbindet – sondern er sucht sie als die „absolute Wirklichkeit“, die außerhalb der totalisierenden philosophischen Leistung steht. Somit ist das „Nichts“ für Rosenzweig der letzte monologische Hinweis zur Wirklichkeit vor der Eröffnung des Dialogs mit ihr. Es ist die Nichtigkeit des Begriffs, die wir reflektiert aufgeben müssen, wenn wir der Wirklichkeit begegnen wollen.162
162 Das philosophische Mitteilen dieser „radikalen Empirie“ bezeichnet und bearbeitet Rosenzweig als das „neue Denken“. (Ebd., Bd. III, 139—161) Vom Begriff des göttlichen „Nichts“, zu dem die negative Theologie gelangt ist, kann man sich nach Rosenzweig in Richtung zur „göttlichen Wirklichkeit“ auf zwei Weisen begeben: entweder durch die Negation dieses Nichts, von dem man ausgeht, oder durch die Bejahung des „Nichtnichts“, auf das man hinzielt. (Ebd., Bd. II, 26) Das „Ja“ dieser Bejahung – das „Urwort der Sprache“ – ist Bejahung der göttlichen Unendlichkeit. (Ebd., 26, 29—30) Neben ihr ist das „Nichts“ der negativen Theologie – Eckharts „Abgrund der Gottheit“ u. ä. – nach Rosenzweig eine Aussage nicht über Gott, sondern nur über unser Nichtwissen (31). Nur in dieser Reinterpretation des Begriffs des Nichts kann nach ihm die Negativität zum Ausgangspunkt der philosophischen Theologie werden – zum Ort, auf den man das Problem stellen kann. Das „Nein“, das zwar gleich ursprünglich wie das „Ja“ ist (30), kann jedoch – zum Unterschied von diesem „Ja“ – keine Befreiung zu dem unendlichen „Nichtnichts“ der göttlichen Wirklichkeit bringen, sondern es ist im Gegenteil „mit dem Nichts in engster Verschlingung Leib an Leib“ (31), es bleibt an die Endlichkeit des „Nichts“ gebunden (26, 31). Weil jedoch zugleich dieses „Nichts sich selbst verneint“, wird das „Nein“ doch von ihm befreit. Und darum: so wie das „Ja“ Gott gegenüber ein göttliches „Ja“, eine Bestätigung seines „Wesens“ ist, ist das „Nein“ eine Abgrenzung Gottes gegenüber dem, was er nicht ist, ist es die Bestätigung seiner Freiheit (31—32). „Es ist keine Freiheit Gottes, (...) es ist (...) Freiheit in Gott und in Bezug auf Gott. Wir wissen auch jetzt noch nichts von Gott.“ (32)
Auf dem Boden dieses Weges zur Begegnung sieht Rosenzweig die grundsätzliche dialogische Differenz zwischen dem vorgängigen menschlichen Untersuchen und dem göttlichen Selbstmitteilen, das man durch nichts anderes wirklich ersetzen kann. Die hypothetische Erwägung von der göttlichen Freiheit (bzw. von der Macht und der Tat, die aus dem „Nein“ hervorgehen), die von dem Wesen Gottes (bzw. von der Notwendigkeit und dem Schicksal, die aus dem „Ja“ hervorgehen) korrigiert wird, konstruiert dann zwar eine mögliche innere Struktur des göttlichen Lebens,163 aber dieses erweist sich in seiner Isoliertheit und Selbstbezug sofort als ein bloß mythisches Gebilde: Freiheit und Wesen, eins in der rätselhaften Einheit des Lebendigen – das ist die Welt des Mythos.“164 Allerdings entbehrt die asiatische Religionswelt – im Vergleich mit den griechischen Vorstellungen von Gottheiten – dieses Leben; sie ist vielmehr auf das Nichts fixiert.165
163 Ebd. 33—34.
164 Ebd. 38.
165 Ebd. 38—41.
Ein charakteristischer Zug, der nach Rosenzweig allen Typen des Heidentums gemeinsam ist, besteht im Bilden von liebenswerten Göttern, die ihrerseits den Menschen nicht lieben. Das umgekehrte Verhältnis – eine Situation, in der im Gegenteil Gott den Menschen unabhängig von der menschlichen Liebe liebt und selbst sich aktiv bemüht, die Liebe auch im Menschen zu wecken – könnte (hypothetisch) nur dann entstehen, wenn einerseits „der unendliche Gott dem Menschen so endlich nah käme, so von Angesicht zu Angesicht, von benannter Person zu benannter Person, wie es kein Verstand der Verständigen, keine Weisheit der Weisen je zugeben dürfte“ und andererseits zugleich „die Kluft zwischen Menschlich-Weltlichem und Göttlichem (...) für so tief, für so wirklich und allen asketischen Menschen- und mystischen Weltkräften unüberspringbar erkannt und anerkannt würde, wie es kein Asketenhochmut, kein Mystikerdünkel (...) je zugeben wird.“166 Der mythische, heidnische Gott, der diese Züge der radikalen Nähe und der radikalen Transzendenz entbehrt, ist für die Welt und den Menschen zwar erreichbar, aber er liebt sie dabei nicht; er bringt sie um ihre Identität: Er zwingt sie durch seine Passivität, dass sie sich um seinetwillen vergöttlichen, dass sie sich von ihrem Menschentum und ihrer Weltlichkeit freimachen; er gibt sich ihnen nicht hin, im Gegenteil, er verzehrt sie, ohne sich selbst und seine Selbstbezogenheit zu verlassen.167
166 Ebd. 43.
167 Ebd.
Unter diesem mythischen Schleier verbirgt sich jedoch – und für ein offenes menschliches Wahrnehmen zerreißt ihn zuletzt – ein ganz anderer, ins menschliche Leben aktiv eingreifender Gott: der liebende Gott, dessen inneres Leben für uns ein Geheimnis bleibt,168 der aber von sich selbst aus mit uns in Beziehung tritt, so dass wir ihn nach dem, was aus ihm hervorgeht – aus seiner Offenbarung – erkennen können. Er offenbart sich dem Menschen als Schöpfer und Erlöser. „Nur dass er Gott ist, erfahren wir in seiner Liebe, aber nicht, was er ist. Das Was, das Wesen bleibt verborgen. (...) Nur von dem Gott der Liebe her erblicken wir den Schöpfer und Erlöser. Nur soweit als der Schimmer jenes Augenblicks der göttlichen Liebe leuchtet, nur soweit erblicken wir, was zuvor und was hernach ist.“169 (Die ungeschaffene „Vorwelt“ ist für unseren Blick zu dunkel und die erlöste „Überwelt“ zu blendend.) „Nur in der unmittelbaren Umgebung jenes Herzpunkts des Alls, der Offenbarung der göttlichen Liebe, wird auch vom Schöpfer und Erlöser soviel offenbar, als uns offenbar werden mag.“170
168 Ebd. 425.
169 Ebd. 424.
170 Ebd. 424—425.
Erst in der Offenbarung Gottes als des Liebenden ist also die Schöpfung und Erlösung sichtbar, und erst durch diese Offenbarung enthüllen sich auch die gegenseitigen Beziehungen von Gott, Welt und Mensch. Diese drei aufeinander nicht zurückführbaren „Elemente“ sind nach Rosenzweig für den heidnischen Blick noch nicht miteinander verbunden; die Philosophie (von den Vorsokratikern bis Hegel) bemüht sich mittels ihrer idealistischen Synthese, sie künstlich zu verflechten. Im Gegensatz zu ihr stützt sich der integrierende dialogische Realismus Rosenzweigs nicht auf die eigene synthetisierende Leistung des philosophischen Denkens, sondern auf den Respekt vor Dem, der selbst wirkliche Beziehungen zwischen sich, dem Menschen und der Welt enthüllt und schafft, dadurch dass er zum Menschen als die kommunikative lebendige Wahrheit kommt. Darum „muss der Philosoph mehr sein als die Philosophie“,171 er muss der sein, der die von der Philosophie unabhängige göttliche Offenbarung annimmt. „Im Menschenwort wird die Möglichkeit verborgen geglaubt, dass sich (...) das Gotteswort durch es offenbart.“172
171 Ebd. 329.
172 Ebd., III, 776.
Die ganze Philosophie Rosenzweigs stützt sich so auf seine theologische Erfahrung. Diese ist tief persönlich, aber zugleich im Einklang mit der traditionell formulierten Erfahrung der Offenbarung in der jüdischen und christlichen Religion: „Die Bibel und das Herz sagen das Gleiche. Deshalb (und nur deshalb) ist die Bibel ‚Offenbarung’.“173 So dass, wenn der Mensch „nur eine Hand“ zur göttlichen Wahrheit ausstreckt – die Hand des Theologen oder Philosophen – verbirgt sich die göttliche Wahrheit; sie will mit beiden Händen auf einmal ergriffen werden.174 Und im Geist einer solchen dialogischen Partnerschaft verfolgt Rosenzweig auch die Bewegung der Wahrheit in der menschlichen Geschichte, in der Gemeinschaft der Juden einerseits und der Christen andererseits. Beide sind der Offenbarung offen, jede übernimmt jedoch von ihr nur einen Teil ihrer Wahrheit, welcher der ihr zugeteilten Sendung entspricht.175
173 Ebd., I/2, 708—709.
174 Ebd., II, 329—330.
175 Die Juden mit ihrer sohnschaftlichen Beziehung zu Gott und mit ihrem unveränderlichen Gesetz, bewahren die göttliche Wahrheit eher statisch. Sie leben über der Zeit und über der Geschichte und in einem kritischen Abstand von der Welt und von den heidnischen Völkern. Sie leben in dieser Welt ohne Heimat und gleichsam schon in der Gegenwart der Erlösung. Die Christen dagegen geraten einerseits in die Beziehung zu Gott durch Vermittlung – durch ihren Messias Jesus Christus – anderseits ist ihre Sendung eher dynamisch: Sie sollen unter den heidnischen Völkern, also in der Welt und in der Geschichte, missionarisch wirken. (Ebd. 331—472)
In der jüdisch-christlichen Offenbarung des Schöpfers enthüllt sich die Welt als Schöpfung: als eine von Gott abhängige, aber auf ihn nicht zurückführbare Wirklichkeit. Dagegen ist die Achse der Offenbarung des Erlösers ein Appell an den Menschen: „Liebe deinen Nächsten.“176 Denn durch die aktive Liebe setzt sich die Herrschaft Gottes in der Welt durch, und der Mensch als das „Bild Gottes“ soll dabei wirken. Die Schöpfung und die Erlösung sind bei Rosenzweig durch die erwähnte Offenbarung im wahrhaft eigentlichen Sinn gegenseitig miteinander verbunden:177 durch das nur an den Menschen adressierte unmittelbare Selbstmitteilen Gottes als des Liebenden. Das Erfassen dieser dialogisch sich mitteilenden dynamischen göttlichen Identität ist der ausstrahlende Mittelpunkt der ganzen philosophischen Theologie Rosenzweigs.
176 Ebd. 229.
177 „Eine Offenbarung, die nichts weiter ist als Offenbarung, eine Offenbarung im engeren, nein, im engsten Sinn.“ (Ebd. 179)
Zum Unterschied der Offenbarung durch die Schöpfung geschieht die direkte Offenbarung in jedem Augenblick.178 Die Liebe Gottes ist dabei ein „Ereignis“, nicht eine Eigenschaft, und sie „ist stets ganz in dem Augenblick und an dem Punkt, wo sie liebt“.179 Die sich hingebende menschliche Reaktion auf sie ist, dass „die Seele in Gottes Liebe stille ist wie ein Kind in den Armen der Mutter, und nun kann sie über das äußerste Meer und an die Pforten des Grabes – und ist doch immer bei Ihm“.180
178 Ebd. 180.
179 Ebd. 183.
180 Ebd. 191.
Dadurch, dass der liebende Gott den Menschen persönlich, „bei Namen“ anspricht (ähnlich wie den biblischen Adam), ruft er in ihm die Seele – sein Ich – zum Leben. Dieses Ich vermag – im Unterschied vom stummen, ausweichenden und sich vergegenständlichenden Selbst – diese Anrede Gottes zu vernehmen und seine Liebe durch die Annahme des „Gebotes“ der Liebe zu ihm zu erwidern: des Gebotes, worauf Gott das Recht hat, weil er selbst souverän liebt. „Nur der Liebende, aber er auch wirklich, kann sprechen und spricht: Liebe mich. In seinem Munde ist das Gebot der Liebe kein fremdes Gebot, sondern nichts als die Stimme der Liebe selber.“181
181 Ebd. 197.
Bei Rosenzweig wird so die dialogische philosophische Theologie als das philosophische Erfassen des liebevollen Dialogs der Seele mit Gott begründet. Das Gebot der Liebe ist hier „das Stammwort des ganzen Offenbarungsdialogs“.182 Gott spricht es als „Ich“, nicht als „Er“ aus. Er spricht es so auch mit dem Mund der Propheten: „Der Prophet ist nicht Mittler zwischen Gott und den Menschen, er empfängt nicht die Offenbarung und gibt sie weiter, sondern unmittelbar aus ihm tönt die Stimme Gottes, unmittelbar aus ihm spricht Gott als Ich.“183
182 Ebd. 198.
183 Ebd.
Der Mensch antwortet auf die liebevolle Sehnsucht Gottes mit seinem Bekenntnis der Liebe – das ihm jedoch keineswegs leicht fällt, weil er zwar Gott liebt und von ihm ständig geliebt werden will, aber zugleich sich für seine Vergangenheit ohne Liebe schämt, als er aus eigener Kraft nicht fähig war, die Fesseln seines Selbst zu sprengen. Will er also seine gegenwärtige und zukünftige Seligkeit bekennen, muss er zugleich seine vergangene und gegenwärtige Schwäche bekennen. Darum sagt er: „Ich habe gesündigt.“184 Aber erst im Bekenntnis „Ich bin ein Sünder“ bekennt er auch seine gegenwärtige Sündhaftigkeit – die darin besteht, dass „ich auch jetzt, auch in diesem gegenwärtigsten der Augenblicke noch lange nicht so liebe, wie ich – mich geliebt weiß. Dies Bekenntnis aber ist ihr (der Seele) schon höchste Seligkeit; denn es umschließt die Gewissheit, dass Gott sie liebt.“185 Diese ihre Äußerung ist deswegen etwas viel Größeres als nur ein Zulassen der eigenen Sündhaftigkeit – sie ist ein Zeugnis von der Liebe Gottes, von Gott als dem Liebenden. „Alles Glaubensbekenntnis hat nur den einen Inhalt: der, den ich im Erlebnis meiner Geliebtheit als den Liebenden erkannt habe, — er ist. Der Gott meiner Liebe ist wahrhaftig Gott.“186
184 Ebd. 200.
185 Ebd. 201.
186 Ebd. 202. Rosenzweig konfrontiert das dem jüdischen und christlichen Glaubensbekenntnis inhärente Prinzip des Dialogs mit dem „tautologischen“ Bekenntnis des Islams „Allah ist Allah“, das (wie er selbst anführt) schon Nikolaus von Kues für eine Formel gehalten hat, zu der sich auch ein Heide oder ein Atheist bekennen kann. Sie ist eine Formel des Glaubens und Unglaubens, weil sie nichts von der göttlichen Offenbarung, von der Wirklichkeit Gottes sagt. Diese ist nur in einer dialogischen Beziehung, in einem sich fortschreitend entfaltenden Gespräch der Liebe erreichbar.
In diesem liebevollen Dialog wird nach Rosenzweig der Mensch erst wahrhaft Mensch, aber zugleich gewinnt auch Gott (durch das menschliche Glaubensbekenntnis) jene Wirklichkeit, die (in der heidnischen Zeit) noch verborgen war: die in ein Beziehungserlebnis eintretende Wirklichkeit. Durch die unendlich tiefe Gegenwart ist hier auch die Vergangenheit sichtbar. Denn auf die menschliche Aussage „Ich bin dein“ antwortet Gott als der Urheber dieses Dialogs: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“187 Die menschliche Aussage ist seitens des Menschen „grundlos“, sie fließt aus dem Überfluss der Seligkeit hervor; Gott dagegen ist sich bewusst, dass er den Menschen mit Liebe geschaffen hat, und mit dem Gedanken an die Schöpfung situiert er seine Offenbarung in die Welt – legt ihren Grund oder „begründet“ sie in der Vergangenheit. In dieser geschichtlichen „Positivität“ der Offenbarung findet der Mensch freilich eine weitere Seligkeit und Sicherheit: „Gewiss, schon vorher konnte ihn nichts von Gott scheiden, aber doch nur, weil er in seiner Vertiefung ins Gegenwärtige nichts außer sich sah. Jetzt darf er ruhig die Augen öffnen und um sich schauen in die Welt der Dinge; es gibt kein Ding, das ihn von Gott scheiden könnte; denn in der Welt der Dinge erblickt er in der unverrückbaren Tatsächlichkeit eines geschichtlichen Ereignisses den gegenständlichen Grund seines Glaubens. Die Seele kann mit offenen Augen und ohne zu träumen sich in der Welt umtun; immer bleibt sie nun in Gottes Nähe. Das ‚Du bist mein’, das ihr gesagt ist, zieht einen schützenden Kreis um ihre Schritte. Sie weiß nun, dass sie nur die Rechte auszustrecken braucht, um zu fühlen, dass Gottes Rechte ihr entgegenkommt. Sie kann nun sprechen: mein Gott, mein Gott. Sie kann nun beten.“188
187 Ebd. 203—204.
188 Ebd. 205.
Rosenzweig sieht die Möglichkeit des Gebets als „das Größte, das in der Offenbarung geschenkt wird“.189 Es geht nicht darum, ob das Gebet „erfüllt“ wird. „Das Gebet selbst ist die Erfüllung.“190 Die Möglichkeit zu beten ist dem Menschen zugleich mit der Sicherheit der göttlichen Liebe gegeben. Sie wird allerdings zur Notwendigkeit, weil der Bau des Reiches Gottes noch nicht vollendet ist. Darum „ins Zukünftige wirft sie (die Seele) nur den Wunsch, die Frage, den Schrei“.191 Es ist jedoch auch ein anderes Gebet möglich, das jetzt schon in das Reich Gottes gehört: „der völlig beruhigte Glaube, die Gestilltheit der Seele in Gottes ‚Du bist mein’, der Friede, den sie in seinen Augen gefunden. Die Wechselrede der Liebe ist da zu Ende. Denn der Schrei, den die Seele im Augenblick der höchsten unmittelbaren Erfüllung stöhnt, tritt über die Schranken dieser Wechselrede hinaus; er kommt nicht mehr aus der seligen Gestilltheit des Geliebtseins, sondern steigt in neuer Unruhe aus einer neuen und noch unerkannten Tiefe der Seele und schluchzt über die ungesehene, doch gefühlte Nähe des Liebenden hinweg in den Dämmer der Unendlichkeit hinaus.“192
189 Ebd.
190 Ebd.
191 Ebd. 206.
192 Ebd.
Wenn Rosenzweig die „Grammatik“ der Offenbarung analysiert, erklärt er, dass die Aussageform der Offenbarung – zum Unterschied von der indikativen Rede der Schöpfung – ein Imperativ ist, denn „nur er verlässt nicht den Kreis des Ich und Du“.193 Während die Schöpfung eher ein Monolog Gottes ist (dem jedoch ein dem Dialog offener Philosoph auch zuhört), wächst in der Offenbarung der Dialog des Erlebens über dem Monolog des Geschehens hinaus. Deshalb verändert sich auch das Substantiv vom Objekt zum Subjekt und ein Kasus vom Akkusativ zum Nominativ. Als Erlebnissubjekt tritt es immer im Singular auf und als Individuum nicht im Rahmen einer Art, sondern ohne Art, seinen eigenen Namen tragend.194 Durch den Anruf dieses Eigennamens – durch die persönliche Aufforderung, die alle sachlichen Zusammenhänge durchbricht – beginnt das Gespräch zwischen Gott und Mensch.
193 Ebd. 207.
194 Ebd. 208.
In dieses „Reich des Namens“ können keineswegs die Kategorien des philosophischen „Idealismus“ eingehen – die nur die Konstrukte des menschlichen begrifflichen Denkens beschreiben und im Licht des Dialogs mit Gott, nach dem Vergleich Rosenzweigs, wie Schatten in der Mittagssonne schwinden. Ihre Geltung wird höchstens auf den Bereich der geschaffenen Wirklichkeit begrenzt. Dagegen ist es in der philosophischen Theologie sinnvoll – wie Rosenzweig sagt – gerade nur mit Hilfe der terminologischen Reihe „Schöpfung-Offenbarung-Erlösung“, mit der unentbehrlichen Rolle der Bindezeichen zwischen ihnen, sich auszudrücken.195 Im Rahmen des philosophischen Idealismus ist es möglich, nur von „Gott“ in der heidnischen Weise – als von dem hinter den Begriffsattributen Verborgenen – zu reden. Dialogisch und zugleich im Einklang mit der biblischen Offenbarung (Rosenzweig analysiert besonders das Hohe Lied) kann man von Gott in seinem lebendigen Verhältnis zum individuellen menschlichen Wesen sprechen.196 Erst in dieser Beziehung kann alles weitere wahrheitsgetreu thematisiert werden.
195 Ebd. 210—211.
196 Ebd. 223, 227.
Die dialogische philosophische Theologie Rosenzweigs geht von dieser Beziehung aus und mündet in sie wieder ein: „Einfältig wandeln mit deinem Gott – das ist kein Ziel mehr, das ist so unbedingt, so frei von jeder Bedingung, von jedem Vorerst noch und Übermorgen, so ganz Heute und also ganz ewig wie Leben und Weg, und darum so unmittelbar der ewigen Wahrheit teilhaftig wie Leben und Weg. Einfältig wandeln mit deinem Gott – nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jeden Augenblick zur Wahrheit wahrlich zusagen. Einfältig wandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem Tor, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben bleiben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weiß es nicht? Ins Leben.“197
197 Ebd. 471-472.
Worauf beruht dieses Leben, das Leben im starken Sinn? Nach Rosenzweig in der erlösenden Ausweitung des Dialogs der Liebe von der Dyas Gott-Mensch zur menschlichen Gemeinschaft in der Welt. „Wie Er dich liebt, so liebe Du.“198 Jene philosophische Theologie, die im Dialog und aus dem Dialog mit Gott lebt, wird hiermit zur Transformatorin dieser Liebe in breitere menschliche Zusammenhänge.
198 Ebd. 228.
* * *
Zum Unterschied von Rosenzweig situiert Martin Buber den Empfänger der göttlichen Offenbarung nicht in die ausschließlich unmittelbare Beziehung zu Gott – in die Beziehung, in der man die ganze Welt mindestens zuvor gleichsam verlieren muss, damit man ungestört und ganzheitlich die göttliche Liebe annehmen könne – sondern er hält auch die Aufnahme der Offenbarung durch die Welt für eine gangbare Weise des Wahrnehmens der göttlichen Wirklichkeit. Die Beziehung Gottes zum Menschen kommt nach Buber (in dem oder jenem Maße) auch durch die übrigen authentischen Beziehungen – durch die Beziehungen zu den als „Du“ wahrgenommenen Wirklichkeiten – zustande. „Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an. (...) Das eingeborene Du verwirklicht sich an jeder (Beziehung) und vollendet sich an keiner. Es vollendet sich einzig in der unmittelbaren Beziehung zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann.“199
199 Werke, Bd. I (Schriften zur Philosophie), München – Heidelberg 1962, 128.
So ist Gott bei Buber der absolute Fluchtpunkt der Bezugnahme und Garant der Priorität der „Welt des Wortes Ich-Du“ vor der „Welt des Wortes Ich-Es“, in die der Mensch zwar – fasziniert mit seinen nicht-dialogischen, vergegenständlichenden Aktivitäten – wiederholt verfallen kann, von der er aber wieder in die Beziehungsbegegnungen herauskommt, in denen sich für ihn jegliche lebendige oder nicht-lebendige Wirklichkeit in das lebende und brüderliche „Du“ verwandelt. „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. (...) So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. (...) Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie. (...) Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme. (...) Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.“200
200 Ebd. 85.
Die künstlich vergegenständlichte Welt der als das „Es“ angenommenen Wirklichkeiten dient zwar effektiv unserem Überleben, enthält jedoch nicht die Fülle der Wirklichkeit, welcher der Mensch nur dann begegnet, wenn seine Beziehung zur Welt von der die Welt durchdringenden und überragenden dialogischen Beziehung zu Gott getragen wird, die imstande ist, auch alle anderen Beziehungen in die reziproke dynamische Begegnung zu transformieren. „Die stärkste und tiefste Wirklichkeit ist, wo alles ins Wirken eingeht, der ganze Mensch ohne Rückhalt und der allumfassende Gott, das geeinte Ich und das schrankenlose Du.“201 Die dialogische Partnerschaft von Gott und Mensch begründet so die menschliche Freiheit, die Möglichkeit der Geschichte, die lebendige menschliche Gemeinschaft, die Möglichkeit des geistlichen Lebens. Ihnen gegenüber ist die gegenständliche und nutzbare „Welt des Wortes Es“, die „Welt der Erkenntnis und des Werkes“ genetisch eine sekundäre und untergeordnete Komponente. Sie ergreift die Herrschaft über den Menschen nur in dem Maß, in dem der Mensch sein Ich – zum Nachteil des wirklichen Begegnens – in beherrschenden, keine Gegenseitigkeit und keinen Dialog zulassenden Aktivitäten realisiert. Die Welt der Gegenständlichkeit verschlingt und macht unwirklich dann auch das Ich selbst.
201 Ebd. 138.
Der Geist, der im Gegenteil fähig ist, die Welt des Wortes Es zu durchdringen und zu verwandeln, ist der Geist der Freiheit, Verantwortlichkeit und Sehnsucht nach Erlösung – er ist der „Beziehungswille“.202 In der Beziehung widmen wir uns nicht dem Beobachten oder der Analyse unseres Gegenübers: „das eine (...), worauf es ankommt: die vollkommne Akzeptation der Gegenwart“.203 Der menschliche Weg zu Gott ist also nicht ein Weg der bloßen Reflexion oder Spekulation, sondern ein Prozess der wesentlichen „Vollendung und Einswerdens“ aller „relativen Beziehungen“ im „Ganzen“ der „absoluten Beziehung“.204 Diese totale Integration hat dabei nicht die immanentistische Natur, sondern enthüllt erst im vollen Maß die absolute göttliche Transzendenz: „Gott umfasst das All, und ist es nicht; so aber auch umfasst Gott mein Selbst, und ist es nicht.“205 Das, was nicht Gott ist, hat eine von Gott bestimmte und den Dialog ermöglichende Sendung: „dass in Gottes Antwort sich alles, sich das All als Sprache offenbart.“206 Darum – als Antwort auf diese Rede – charakterisiert Buber die „vollkommne Beziehung“ als „nichts neben Gott, aber auch alles in ihm fassen“207. Das existentielle Zeichen einer wahrhaften Beziehung zu Gott ist das Erlebnis: „schlechthin abhängig“ und zugleich „schlechthin frei“208. „Wir begegnen dem Schaffenden, reichen uns ihm hin, Helfer und Gefährten.“209
202 Ebd. 110.
203 Ebd. 130.
204 Ebd. 132.
205 Ebd. 142.
206 Ebd. 148.
207 Ebd. 131.
208 Ebd. 133.
209 Ebd.
Buber charakterisiert Gott nicht anders als „das ewige Du“, bisweilen als „das unendliche Du“. Mit diesem Ausdruck ist für ihn alles über Gott ausgesagt. Gott ist das absolute Gegenüber des Menschen in der Begegnung; das einzige Element des wirklichen Erkennens Gottes ist die Bezugnahme.
Aber trotz der wesentlichen Unvergegenständlichkeit Gottes machen wir aus ihm – wie Buber zulässt – im Verlauf unseres Lebens und der Geschichte wiederholt ein „Es“. Buber sieht darin allerdings eine Lebensnotwendigkeit: Obwohl wir uns nach einer absolut sicheren und dauerhaften Beziehung zu Gott sehnen, ist die allgemeine menschliche Fähigkeit, in Beziehung zu sein, nicht kontinuierlich – die Augenblicke der „Aktualität“ wechseln mit den Perioden der „Latenz“ ab. Die Stütze des Begriffs, die anfangs jene vorübergehende Abwesenheit der Beziehung nur ergänzt, hat dabei die Neigung, die Beziehung nach und nach zu ersetzen. „An die Stelle der stets erneuten Wesensbewegung der Einsammlung und des Ausgehens tritt das Ruhen in einem geglaubten Es.“210 Auch die philosophische Theologie kann eine Funktion solches mit der Beziehung nicht durchdrungenen Glaubens sein. Nach Buber ist die nur mit der Idee Gottes beschäftigte Philosophie eine Folge des Selbstgesprächs irgendeines zur Fiktion orientierten Glaubens, der an Stelle des Gesprächs mit Gott nur die Kommunikation zwischen verschiedenen Schichten der menschlichen Seele vermittelt.211 Die dialogische Konzeption Bubers ist eines von den Toren, durch das man aus der anthropozentrischen Reduktion zu jenem Erkennen Gottes heraustreten kann, das mit Wirklichkeit erfüllt ist.
210 Ebd. 155.
211 Ebd. 511.
* * *
Emmanuel Lévinas formuliert den dialogischen Gedanken an Gott als eine ethische Beziehung. Sein philosophischer Zugang zu dieser Frage ist dabei vom inneren Anspruch geleitet, die theologische Rede vor dem wahrhaft eigentlichen, universal kommunizierenden Denken der Philosophie zu rechtfertigen. Diese Universalität ist bei ihm wesentlich mit dem Prinzip des Dialogs verbunden.
Der Dialog ist im Sinne von Lévinas das, was „außerhalb der Totalität“ zu kommunizieren ermöglicht: die verschlossenen Systeme des beherrschenden Denkens zu öffnen und zu übersteigen, die sich (in der modernen Zeit relativ am meisten) bemühen, in ihre Strukturen alles zu assimilieren, was sich dieser Assimilation unterordnen kann, und alles ihnen „Fremde“, „Andere“, Transzendente als nicht intelligibel (irrelevant, irrational) zu eliminieren. Lévinas erweist, dass das Maß der derart konzipierten Intelligibilität in grundsätzlicher Weise begrenzt ist212 und dass man sie – besonders in der Frage Gottes – mit der dialogischen Haltung relativieren kann. „Besser als das Begreifen, stellt das Gespräch eine Beziehung her zu dem, was wesentlich transzendent bleibt.“213
212 Transcendance et intelligibilité, Genève 1984.
213 Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, La Haye 1961, 169.
Lévinas erklärt, das Tor zum Gespräch mit Gott für das philosophische Denken sei die Idee der Unendlichkeit. Er fasst sie auf als eine „außerordentliche Idee“ – die schon bei Descartes (auch wenn er ihren Sinn monologisch reduzierte) gerade das Denken an Gott war –, er erfasst sie als eine Idee, deren Denken nicht ein Akt des Bewusstseins, sondern vor allem ein passives Aufnehmen der Transzendenz ist. Es ist ein Denken, das nicht den Charakter der thematisierenden Intentionalität hat, sondern ein geforderter und antwortender Gehorsam ist. Mit der Idee der Unendlichkeit beziehen wir uns nämlich zu etwas mehr, als wir in der Endlichkeit unseres „cogito“ fähig sind zu denken. Diese Idee hat ihren „Inhalt“ nicht in ihrer Macht. „Der Gedanke des Unendlichen impliziert einen Gedanken des Ungleichen. Ich gehe von der kartesianischen Idee des Unendlichen aus, wo das Ideatum dieses Gedankens, das heißt das, wozu diese Idee hinzielt, unendlich größer ist als der Akt selbst, wodurch man daran denkt. Es existiert ein Missverhältnis zwischen dem Akt und dem, wozu der Akt führt.214 Die Idee der Unendlichkeit ist also darin einmalig, dass sie das Übersteigen angesichts des Denkens, „das Undenkbare zu denken“ ermöglicht – und so das Denken von der menschlichen Zweckgebundenheit loszubinden befähigt: „Die Beziehung zum Unendlichen ist nicht ein Wissen, sondern eine Sehnsucht. (... Im Unterschied vom Bedürfnis) kann die Sehnsucht nicht befriedigt werden (...) sie ist wie ein Gedanke, der mehr denkt als er denkt.“215
214 Éthique et Infini. Dialogues avec Philippe Nemo, Paris 1982, 96.
215 Ebd. 97.
Das Denken des Unendlichen ist also nicht ein Denken, das aktiv zu diesem seinem Gedachten hinzuträte, sondern es ist ein Denken, das sich ihm hingibt.216 Die philosophische Beziehung zu Gott geht da nicht von dem aus, der denkt, sondern von dem, der gedacht wird. Die Idee der Unendlichkeit eröffnet also ein Gespräch, das die Grenzen des monologischen Erkennens durchbricht, das nach Lévinas durch die Form der „Totalität“ gebildet ist.
216 De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, 10.
Die Idee der Totalität, die „über der westlichen Philosophie herrscht“, ist eine Idee der künstlichen Einheit. Sie leitet einen objektivierenden und synthetisierenden Blick ein, der die Denkbarkeit nur als eine Fähigkeit der Einordnung von allem in gegenseitig korrelative Beziehungen konzipiert. Die natürliche gegenseitige Disparatheit und Andersartigkeit der Seienden wird so von außen her auf die dialektische Einheit der Gegensätze reduziert. Der Andersartigkeit und Transzendenz wird so „der Krieg“ erklärt.217 Die Idee der Totalität, die der Idee des Unendlichen nicht untergeordnet ist, führt nach Lévinas zum „ontologischen Imperialismus“ und zur Freiheit als „Gewalt am Anderen“;218 dagegen die „metaphysische Sehnsucht“, von der Idee des Unendlichen geleitet, zielt dialogisch, in Frieden und verantwortlicher Freiheit zum „absolut Anderen“:219 zum Transzendenten, in die Totalität nicht zu Integrierenden, „Exterioren“.
217 Totalité et Infini, X.
218 Ebd. 15—18.
219 Ebd. 3.
Dabei ist die Idee des Unendlichen bei Lévinas nicht eine rein theoretische Idee, sondern sie fällt uns in der Konkretheit unserer praktischen Beziehungen zu anderen Menschen ein;220 die theologische Exteriorität ist bei ihm nicht nur abstrakt-negativ beschreibbar, sondern vor allem als eine Instanz, die lebendig und positiv in die ontologische Totalität eintritt: als eine konkrete geistige Macht, die die menschlichen Personen der Oberherrschaft des Seins und der Geschichte entreißt und ihnen direkte Beziehungen von Angesicht zu Angesicht ermöglicht. Gerade durch sie kann man die Totalität metaphysisch durchbrechen und beeinflussen.
220 De Dieu..., 9—10.
Dieses aktive Eintreten Gottes in die endlichen menschlichen Verhältnisse und das entgegenkommende menschliche Heraustreten aus ihnen ist nur auf Grund dessen möglich, dass die erstursprüngliche Entstehung der endlichen Wesen den Charakter der „Schöpfung aus nichts“ hatte.221 Nur unter dieser Voraussetzung ist die gegenseitige Getrenntheit, Andersartigkeit und Pluralität der Wesen möglich, die nicht ein ontologischer Verfall, ein Schein, etwas Sekundäres der Einheit des Seins gegenüber ist, sondern im Gegenteil etwas, was der Totalität des Seins, gerade durch die Entstehung „ex nihilo“ vorausgeht und sie also auch übersteigt und überwindet. Der Dialog Gottes und der Menschen geschieht also auch durch den Schleier der ontologisch totalisierenden Unpersönlichkeit, den man von beiden Seiten durchreißen kann, denn gerade nur gegenseitig getrennte und gegenseitig andere Wesen – gerade deswegen, weil sie dank ihrer metaphysischen Getrenntheit der ontologischen Vereinigung authentisch nicht fähig sind – sind authentisch fähig der dialogischen Beziehungen. Aus der Geschaffenheit aus nichts schöpfen die menschlichen Personen ihre Unabhängigkeit vom Sein und ihre Möglichkeit der Beziehungen zueinander und zu Gott. „Alle menschlichen Beziehungen, sofern sie menschlich sind, kommen von der Befreiung vom Sein her.“222 Diese dialogisch offene Unabhängigkeit ist im Menschen die Voraussetzung des Denkens der Idee des Unendlichen – zugleich aber auch die Voraussetzung ihres Nicht-Denkens: „Für den Schöpfer liegt gewiss ein großer Ruhm darin, ein Wesen auf die Füße gestellt zu haben, das zum Atheismus fähig ist, ein Wesen, das – ohne eine causa sui zu sein –, einen unabhängigen Blick und Sprache hat, ein Wesen, das bei sich daheim ist.“223
221 Totalité et Infini, 78.
222 Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974, 247—248.
223 Totalité et Infini, 30.
Solcherart – zum Unterschied von dem panplektalen Denken der heidnischen Mythen und der monologischen Philosophie – respektiert Lévinas die von Gott garantierte, unberührbare „Interiorität“ der menschlichen Personen und beschreibt die aus ihr hervorgehenden dialogischen Beziehungen. „Dank der Dimension der Interiorität verweigert sich das Wesen dem Begriff und widersteht der Totalisierung.“224 „Die Menschen haben ein inneres Leben, das dem verschlossen ist, der gleichwohl die globalen Bewegungen der menschlichen Gruppen erfasst.“225 Die Situation des Geschaffenseins relativiert so die „Oberherrschaft des Seins“ als eine bloß ontologische Mystifikation: Die Seienden – und namentlich der Mensch als „das Seiende par excellence“ – sind nicht nur auf den unpersonalen Seinsbegriff beziehbar,226 sie haben ihre innere, außer-ontologische Dimension und sind fähig, gegenseitig direkte Beziehungen anzuknüpfen: „metaphysische“ Beziehungen, Beziehungen „außer dem Sein“, die einen ethischen Charakter haben und eine Gemeinschaft über dem Sein konstituieren – eine Sozialität des „eschatologischen Friedens“.227
224 Ebd. 28.
225 Ebd. 29.
226 Autrement qu’être..., 33—37; und a. a. O.
227 Totalité et Infini, 282—283.
Nur diese Beziehungen „von Angesicht zu Angesicht“ sind auch der Ort, wo wir der Wahrheit begegnen: „Wenn es stimmt, dass die Wahrheit in der absoluten Erfahrung, in der das Wesen von seinem eigenen Lichte strahlt, auftaucht, dann ereignet sich die Wahrheit nur in dem wirklichen Gespräch.“228 Der Dialog – der die Horizonte aller Totalisationen unterbricht und relativiert – ist eine reine Transzendenz-Erfahrung: „Für das Wesen besteht die Manifestation kath’auto, in der es uns betrifft, ohne sich zu entziehen und ohne sich selbst zu verraten, nicht darin, enthüllt zu werden, sich einem Blick zu entdecken, der es zum Thema der Deutung machen und der in seiner absoluten Stellung das Objekt dominieren würde. Für das Wesen besteht die Manifestation kath’auto darin, sich uns zu sagen, sich auszudrücken, und zwar unabhängig von jeder Stellung, die wir ihm gegenüber haben. (...) Das Wesen findet sich hier nicht im Lichte eines anderen, sondern (...) ist gegenwärtig als das, was der Manifestation die Richtung gibt (...) Die absolute Erfahrung ist nicht Entdeckung, sondern Offenbarung: Koinzidenz des Ausgedrückten und dessen, der ausdrückt, eine Manifestation, die vom Anderen schon dadurch privilegiert ist, eine Manifestation des Gesichts.“229 Soweit die Universalität des philosophischen Denkens selbst in dieser direkten Erfahrung begründet ist, ist sie fähig, sie zu beschreiben: als eine auf die Beziehung von Subjekt und Objekt nicht reduzierbare, dialogische Bezugnahme, die die „Offenbarung des Anderen“ durch seine authentische Ansprache ermöglicht. „Das Gesicht ist eine lebendige Gegenwart, es ist Ausdruck. (...) Das Gesicht spricht. Die Manifestation des Gesichts ist schon Gespräch.“230 Nach Lévinas führt nicht erst die direkte Beziehung mit Gott, sondern schon der Dialog mit dem Gesicht eines anderen Menschen zur Transzendenz. „Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Gesicht aus.“231 „Das Gesicht entzieht sich vom Sein als vom Korrelat des Wissens.“232 „Das Gesicht ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext.“233 „Der unsichtbare, nicht thematisierbare Gott ausdrückt sich in diesem Gesicht.“234 „Für-den-anderen-Menschen und dadurch Zu-Gott! In dieser Weise denkt ein Denken, das mehr denkt, als es denkt.“235
228 Ebd. 43.
229 Ebd. 37.
230 Ebd.
231 Ebd. 50.
232 Éthique et Infini, 91.
233 Ebd. 90.
234 De Dieu..., 250.
235 Ebd. 13.
Der theologische Inhalt, den das Gesicht eines anderen Menschen mitteilt, ist ein ethischer Inhalt; er ist vor allem der Imperativ „Du sollst nicht töten“, den Lévinas in eine integrale Botschaft der philosophisch neuen, theologisch verankerten Humanität einführt. Die Nächstenliebe ist ein Gebot in ihr, das von Gott ausgeht, sich jedoch des Menschen nicht von außen her und mit Gewalt bemächtigt: Das menschliche Wesen, das „seiner Natur nach atheistisch“ ist,236 hört dieses Gebot in seiner eigenen spontanen Antwort darauf,237 in seiner eigenen Zuneigung zum anderen Menschen. Die ethische Aufforderung ist eine „in mir eingeschriebene Spur“,238 der Gehorsam ihr gegenüber geht dem Hören und Aufnehmen ihres formulierten Gebotes voraus.239 Die „Diachronie“ oder der „Anachronismus“ dieses Vorausgehens, dieser Vergangenheit, dieser Ursituation der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott, die von keiner Erinnerung und keiner Historiographie erreichbar ist,240 ermöglicht den Durchbruch aus der immanenten (in der totalisierenden Einheit der transzendentalen Apperzeption gegründeten) menschlichen Identität und erweckt das menschliche Bewusstsein aus seiner Aktivität zu einer nicht vereinnahmbaren, radikal ausgelieferten „Passivität, die passiver ist als jede Passivität“.241.Darum kann der Gehorsam der Formulierung des Gebotes selbst vorausgehen: Das offenbarende Begegnen mit dem Gesicht des Anderen in seiner Wehrlosigkeit und Verlassenheit (die Lévinas mit der klassischen biblischen Exemplifikation des „Armen, Fremden, der Witwe und der Waise“ konkretisiert) ruft meine Verantwortung früher hervor, als ich fähig bin, meine Reaktion zu reflektieren.
236 Totalité et Infini, 29.
237 Autrement qu’être..., 234.
238 Ebd. 235.
239 Ebd. 234—235; und a. a. O.
240 Ebd. 30.
241 Ebd. 30; und a. a. O.
So geht die Verantwortung für den Anderen (die von der lebendigen Situation der Begegnung von Angesicht zu Angesicht angeregt wird) meiner Freiheit voraus und „entfaltet sie zur Güte“. Das menschliche Subjekt als Empfänger und Träger der ethischen Bedeutung – Bedeutung, die „Ruhm der Transzendenz“ ist242 – verliert seine Identität der generalisierten Struktur und wird zu einem unvertretbar einmaligen „Sub-jekt“: zum Untertan oder zur „Geisel“ des Anderen, für den er asymmetrisch, ohne jegliche Reziprozität verantwortlich ist. „Ich bin verantwortlich für den Anderen, ohne von ihm eine Reziprozität zu erwarten, wenn es auch mein Leben kosten sollte.“243 Diese „Stellvertretung des Einen für den Anderen“,244 diese „Subjektivität als Einer-für-den-Anderen“,245 verwundbar und doch „für den Anderen brennende (...) bis zur Asche“,246 ist die Weise, in der Immanenz zu leben und dabei sich in sie nicht einzuordnen, die Weise in der Nähe Gottes zu sein, der „bei den Zerschlagenen und Bedrückten wohnt“ (Jesaja 57,15). Gerade diese Situation des „Auserwähltseins“ – Verzichten auf eigene verschlossene und totalisierende Identität, Sich-Befreien von der Ganzheit des zu sich selbst bezogenen Selbst – die entgegenkommende Antwort auf die Nähe Gottes im Gesicht meines Nächsten – ist die Situation, in der das Einmalige einen universalen Sinn bekommt, ja sogar im gewissen Sinn die Universalität ermöglicht.247 Denn „die wahre Einheit oder das wahre Zusammen ist nicht ein Zusammen der Synthese, sondern ein Zusammen von Angesicht zu Angesicht“.248
242 Ebd. 29.
243 Éthique et Infini, 105.
244 Autrement qu’être..., 29.
245 Ebd. 30.
246 Ebd. 85.
247 Dieu l’homme? In: Qui est Jésus-Christ? Semaine des intellectuels catholiques, Paris 1968, 186—192.
248 Éthique et Infini, 82.
Das ethische Engagement kennzeichnet die philosophische Theologie von Lévinas dadurch, dass die Beziehung zu Gott in ihr niemals ohne die Beziehung zum Menschen denkbar ist – dass die wahre Gemeinschaft mit Gott immer Hand in Hand mit der wahren Gemeinschaft unter den Menschen einhergeht. „Es ist äußerst wichtig zu wissen, ob die Gesellschaft im gebräuchlichen Sinne des Wortes Resultat des Prinzips homo homini lupus ist, oder umgekehrt des Prinzips, dass der Mensch für den Menschen ist. Entspringt das Soziale mit seinen Institutionen, seinen universellen Formen, seinen Gesetzen daraus, dass man die Folgen des Krieges zwischen den Menschen abgrenzte, oder daraus, dass man das Unendliche, was sich in der ethischen Beziehung des Menschen zum Menschen öffnet, abgrenzte?“249 Lévinas erweist, dass die Verantwortlichkeit als die begründende Struktur der Subjektivität auch die unentbehrliche Voraussetzung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit ist, die einen eschatologischen Sinn hat. „Die Menschen haben eine privilegierte Möglichkeit: ein freies Wesen, das die Geschichte richtet, anstatt sich von ihr gerichtet werden zu lassen. (...) Gibt es überhaupt einen Grund dazu, kopflos in die Geschichte zu stürzen, darin Richtlinien zu suchen und darin die Seele zu verlieren, ohne Möglichkeit sie irgendwann wiederzugewinnen, die Seele, die stärker ist als Gefahren der Stunde?“250 „Das harte Gesetz des Krieges zerschellt am Unendlichen, an dem, was objektiver ist als die Objektivität.“251
249 Ebd. 85.
250 Difficile liberté. Essays sur le judaisme, Paris 19833, 293—294.
251 Totalité et Infini, XIV.
Dieses in dem wehrlosen Gesicht meines Nächsten sich offenbarende Unendliche kann ich jedoch nicht gut wahrnehmen, solange ich dem anderen Menschen gegenüber nur die Intentionalität meines Erkennens und die Expansivität meines „animalischen Wohlgefallens in mir selbst“ geltend mache. Dieses „reduzierte Denken“ verliert nach Lévinas freilich doch seine idolatrische Absolutheit, wenn der Mensch das zu registrieren beginnt, dem er passiv ausgeliefert ist: sein Altern. Ein Anfang des nicht-selbstbezüglichen Denkens kann das Ereignis des endgültigen Fallens der Schutzmaske der sich in der Welt durchsetzenden Personalität sein. Der Mensch ist bloßgestellt, seines Zufluchtsortes verlustig, problematisiert. Das Gesicht des Anderen kann in ihm dann allerdings auch die radikale Frage des „schlechten Gewissens“ wecken: „Hab’ ich das Recht zu sein?“252 Denn zu sein ist nach Lévinas an sich selbst noch nicht gut. Eben um des Anderen willen höre ich auf, an dem Sein zu hängen; ich höre auf, der dunklen Anonymität seiner Macht zu unterliegen. Die Beziehung von Gott und Mensch – „das Durchreißen des Seins“, „das Auserwähltsein“, „der Gehorsam“ – ist die Quelle der Ethik, Einmaligkeit, Nicht-Anonymität. Diese Beziehung umgeht die Reichweite der menschlichen Dominanz, springt dem Menschen in den Weg durch eine jähe und unmittelbare Nähe der Transzendenz.
252 De l’Un à l’Autre, Archivio di filosofia, 1983, 21—38.
Darum kann Gott niemals wahrlich ein disponibles „Thema“ des intentionalen Denkens werden. Und darum kann er auch nach Lévinas nicht für ein „Du“ gehalten werden. Als ob es zu bekannt, zu gegenwärtig, zu reziprok, zu klein für das Unendliche wäre. Die Ehrfurcht von Lévinas der göttlichen Unermesslichkeit gegenüber äußert sich mit dem Fürwort „Er“: „der Höchste“. Der beunruhigende, Inspirierende, ins Endliche Eingehende (wenn der Mensch seinen Nächsten aufnimmt) – aber er selbst absolut Nicht-Gebundene. Nicht bloß ein Gegenüber des Menschen, sondern die unendliche Exteriorität, die sich bezieht, worauf sie selbst will, und deren Inspiration dem Menschen dabei sein Menschentum schenkt. Darum ist der „Tod Gottes“ im Menschen zugleich das Ende seiner Menschlichkeit. Nicht umgekehrt. Gott antworten kann man nur, wie Er will: ethisch – durch das Eintreten in den Reichtum der Beziehungen, in denen sich durch jedes „unheilbare Trauma“ der Gabe und des Opfers die „Glorie des Unendlichen“ auftut. Mit dem Fürwort „Er“ ist auch die Ehrfurcht zum menschlichen „Du“ – das in seinem Gesicht die „Spur“ Gottes trägt – vorgezeichnet. Vor allem jedoch drückt dieses Fürwort eine tiefe Asymmetrie zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen aus. Es bezweifelt radikal das menschliche Sich-Einnisten, nicht nur in dem, was ich selber besitze, was ich fähig bin zu begreifen und was mich zufriedenstellt, aber auch das Hängenbleiben an der bloßen Reziprozität, die den einseitigen Gehorsam und das Opfer – für den Anderen zu sein, „ohne Rückkehr zu sich“ – ablehnt.253
253 Autrement qu’être..., 221.
Der Ausdruck „Er“ oder „Erheit“ („Illéité“) äußert allerdings nicht nur die asymmetrische Beziehung des Unendlichen und Endlichen – jenes „Mehr im Weniger“ – sondern auch die Negation der einfachen Gegenwart Gottes; von den Behauptungen der negativen Theologie unterscheidet er sich jedoch durch die Positivität der Bezugnahme. „Erheit des Außer-Seins ist das Faktum, das bedeutet, dass ihr Kommen zu mir ein Fortgehen ist, das mir das Bewegen zum Nächsten beenden läßt.“254 Das bedeutet, dass Gott sich zum Menschen mit seiner Forderung der Verantwortlichkeit nicht als die ontologische Ursache oder das gnoseologische Thema, sondern als der lebendige transzendente Vorbeigehende wendet,255 der mit seinem Wort den Menschen außerhalb aller Kontexte bindet, ohne dass er selbst durch jeglichen Kontext gebunden wäre. Die metaphysische Übermacht Gottes und des Nächsten ist also etwas anderes als eine ontologische Gewalt: Die taktvolle Entfernung Gottes – als das „Er“ ausgedrückt – hindert den Menschen nicht in der Reduktion der eigenen Identität auf eine feste und ganzheitliche Immanenz des selbstbezüglichen Seins in der Welt. Diese Entfernung Gottes ermöglicht ihm nur eine solche Beziehung zu Gott und dem Nächsten, die ganz ernst gedacht wird, in der der Mensch selbst von sich und für sich zumindest zum Risiko der ontologischen Unsicherheit entschlossen ist. „Die Wahrheit setzt ein Wesen voraus, das in der Trennung autonom ist.“256
254 Ebd. 28.
255 Gott spricht mit uns bei seinem „Vorbeigehen“. (Ebd. 247)
256 Totalité et Infini, 32.
Die Einladung zum ethischen Dialog ist also in die menschliche Seele nicht deterministisch eingebaut. Sie wird von außen ausgesprochen: „Das Begehren ist ein Streben, das vom Begehrten belebt wird; es entsteht von seinem ‚Gegenstand’ her, es ist Offenbarung.“257 Die göttliche „Erheit“ bewirkt jedoch, dass die konkrete Anrede, durch die der Mensch zur Beziehung zu Gott erwacht, nicht direkt von Gott, sondern auf dem Umweg – vom Gesicht eines anderen Menschen – herkommt. „Der unsichtbare, nicht thematisierbare Gott ausdrückt sich in diesem Gesicht.“258 Hier ergeht die Anrede direkt und unmittelbar, vor aller Reflexion und Theorie, mit der Geltung, die universal menschlich und vor allen verbalen Zeichen ausgedrückt ist. Nur so kann ich sie auch aufnehmen: „Wir kennen diese Beziehung nur – und das macht sie bemerkenswert – in dem Maße, in dem wir sie ausführen.“259
257 Ebd. 33.
258 De Dieu..., 250.
259 Totalité et Infini, 10.
Diese Unmittelbarkeit selbst ist jedoch nicht mit der gleichen Unmittelbarkeit, sondern wieder auf dem Umweg, der an die göttliche Erheit erinnert, mitteilbar. „Der Unendliche spricht durch das Zeugnis, das ich über ihn ablege.“260 Dieses Zeugnis ist jedoch nur eine göttliche „Spur“, gleich ambivalent und verschwindend wie Er selbst: „Die flüchtige, schwindende und wieder auftauchende Spur, die wie eine Spitze der Frage vor dem Funkeln der Zweideutigkeit ist.“261 Es ist ganz klar: „Dass die Offenbarung Liebe zum anderen Menschen ist (...) – all das darf nicht als ein ‚neuer Beweis für die Existenz Gottes’ aufgefasst werden.“262 In der dialogischen philosophischen Theologie von Lévinas geht es um nichts anderes als um folgendes: „Wenn (die Philosophie) dem, was mit den Kategorien der Rede bricht, die Form des Gesagten gibt, möglicherweise prägt sie in das Gesagte die Spuren dieses Brechens.“263 „Die ‚Epiphanie’ tritt in das Sagen dessen, der die Offenbarung empfängt, ein.“264 Die Philosophie, die in den Dialog mit Gott eingetreten ist, wird mehr oder weniger seine Dolmetscherin. Die letzte Bedeutung des Wortes „Er“ kann also bei Lévinas in der demütigen Berufung des Dieners auf den Befehl seines Herrn beruhen. „Gott zu kennen heißt wissen, was man tun soll.“265 Die Nicht-Verantwortung des menschlichen Monologs kann nur durch diesen Gehorsam verlassen werden.
260 Autrement qu’être..., 237.
261 Ebd. 252.
262 De Dieu..., 252.
263 Éthique et Infini, 114.
264 Autrement qu’être..., 234.
265 Difficile liberté, 34.